Kranke Arbeitssuchende geraten aufgrund eines angeschlagenen Gesundheitszustands häufig in eine prekäre Lage. 

Erwerbsausfall bei Krankheit: eine Lücke im System der Sozialversicherungen

08.09.2025
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Eine vom Nationalrat gutgeheissene Motion fordert die Einführung einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung. Der Bundesrat erarbeitet nun im Auftrag der vorberatenden Kommission des Ständerats einen Bericht über die Handlungsmöglichkeiten. Artias hat eine Analyse der Thematik und der damit verbundenen Herausforderungen verfasst.

In der Schweiz besteht weder für Selbstständigerwerbende noch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine gesetzliche Verpflichtung zur Absicherung des Erwerbsausfalls bei Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit. Dieser Bereich wird im Wesentlichen durch das Arbeitsrecht und das Privatversicherungsrecht geregelt. Das Obligationenrecht oder die öffentlich-rechtlichen Arbeitsvorschriften verpflichten den Arbeitgeber, den Lohn bei Krankheit weiterzuzahlen, jedoch nur für einen begrenzten Zeitraum, der oft nach kantonalen oder richterlichen Massstäben festgelegt wird. Grundsätzlich hat ein Arbeitnehmer beispielsweise nur Anspruch auf drei Wochenlöhne im ersten Dienstjahr oder auf zwei Monatslöhne im dritten bis vierten Dienstjahr. Diese Dauer hängt stark von der Betriebszugehörigkeit und den örtlichen Gepflogenheiten ab und beginnt bei einem neuen Arbeitgeber wieder bei null. 

Parallel dazu kann der Arbeitgeber Taggeldversicherungen abschliessen, die in der Regel 70 oder 80 Prozent des Lohns während 720 Tagen mit einer Wartefrist von grundsätzlich 30 bis 60 Tagen decken. Diese Versicherungen sind jedoch freiwillig, und 95 Prozent davon fallen unter das Versicherungsvertragsgesetz. Nur eine Minderheit unterliegt dem Krankenversicherungsgesetz, das für Arbeitgeber und Versicherer wenig attraktiv ist. Das System basiert daher weitgehend auf dem Privatrecht, wo Vertragsfreiheit herrscht. Die Versicherer können die Versicherung verweigern und verfügen darüber hinaus über einen grossen Spielraum bei der Festlegung der allgemeinen Versicherungsbedingungen.

Einige konkrete Folgen

Dieser rechtliche Rahmen hat vor allem wegen der zahlreichen Deckungslücken Auswirkungen, die Anlass zur Sorge geben. Für Selbstständige ist die Aufnahme in eine Versicherung oft von einer Gesundheits- oder Risikoprüfung abhängig. Tätigkeitsbereiche wie beispielsweise in der Reinigungsbranche gelten jedoch als risikoreich, und die Versicherung ist entsprechend kostspielig. Selbstständige sind deshalb oft nicht versichert. Dies benachteiligt gerade Arbeitslose, denen geraten wird, sich selbstständig zu machen, um Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden, oder nachdem sie keine ALV-Ansprüche mehr haben.

Für Arbeitnehmer führt die begrenzte gesetzliche Dauer der Lohnfortzahlung bei Nichtabschluss einer Taggeldversicherung ebenfalls dazu, dass sie nicht ausreichend abgesichert sind. Selbstständige und Arbeitnehmer haben ferner zu gewärtigen, dass bestimmte Risiken ausgeschlossen sind, beispielsweise für bereits bestehende Krankheiten oder solche, die in Übergangszeiten zwischen zwei Verträgen auftreten. 

Schwierigkeiten haben oft auch kleinere Unternehmen. Denn einige Gesamtarbeitsverträge verpflichten sie, ihre Arbeitnehmenden zu versichern. Einige Arbeitgeber haben jedoch Probleme, einen Versicherer zu finden, der bereit ist, sie zu versichern. Die Existenz ihres Unternehmens ist somit gefährdet. Da 98,1 Prozent der Unternehmen in der Schweiz im Jahr 2022 Kleinst- und Kleinunternehmen waren, ist die Zahl der betroffenen Betriebe relevant. 

Lückenhafte und unvollständige Statistiken

Der Bundesrat bekräftigte 2019, dass der Verdienstausfall bei vorübergehender Krankheit durch Taggeldversicherungen weitgehend abgedeckt sei. Diese Aussage ist jedoch fragwürdig, da die entsprechenden Statistiken lückenhaft sind. Tatsächlich gibt es bis heute keine Daten, aus denen hervorgeht, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich über einen solchen Versicherungsschutz verfügen. Im Jahr 2017 räumte der Bundesrat zwar ein, dass die Zahlen zur Taggeldversicherung und zur Lohnfortzahlung bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit unzureichend seien. Er lehnte jedoch Abhilfemassnahmen ab und verwies auf die Komplexität der Aufgabe. Diese statistische Unsichtbarkeit trägt zum Status quo bei: Ohne klare Zahlen gibt es keine politische Dringlichkeit.

Grosse soziale Herausforderungen

Diese Unvollständigkeit des Schweizer Systems verschärft die bestehenden sozialen und beruflichen Ungleichheiten. Am stärksten betroffen sind die am stärksten benachteiligten Personen, wie Niedrigverdienende, ältere Menschen oder Menschen mit chronischen Erkrankungen, die einem höheren Krankheitsrisiko ausgesetzt sind und/oder weniger Zugang zu einer befriedigenden Absicherung haben.

Menschen mit Behinderungen sind ein typisches Beispiel dafür. Sie sind ohnehin schon mit Hindernissen bei der Arbeitssuche konfrontiert und können doppelt benachteiligt werden, wenn sie von den Versicherern als Risiko eingestuft werden. Nach Ansicht einiger Autoren vermeiden viele Arbeitgeber daher, sie einzustellen, oder entlassen sie sogar, wenn ihr Gesundheitszustand das wirtschaftliche Gleichgewicht ihres Unternehmens gefährdet.

Darüber hinaus gerät ein kranker Arbeitnehmer, sobald er arbeitslos ist, aufgrund seines Gesundheitszustands in eine prekäre Lage. Zwar kann die Arbeitslosenversicherung unter bestimmten Voraussetzungen Taggelder bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit gewähren, jedoch nur für einen begrenzten Zeitraum von 30 Tagen. Die Invalidenversicherung kann unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls eine Invalidenrente gewähren, jedoch frühestens nach einem Jahr Arbeitsunfähigkeit. Die Bearbeitungszeiten für diese Anträge auf Invalidenrente sind bekanntermassen besonders lang und können mehrere Jahre dauern. Dies lässt die Betroffenen in einer Grauzone ohne Schutz zurück, oft mit Sozialhilfe als einziger Möglichkeit.

Das aktuelle System kann auch dazu führen, dass einige Menschen, obwohl sie krank sind, aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, ihres Einkommens, ihrer Sozialleistungen und/oder vor dem Abgleiten in eine Art Prekaritätsspirale davon abgehalten werden, Hilfe in Anspruch zu nehmen, sich rechtzeitig behandeln zu lassen oder eine Arbeitsunfähigkeit zu melden.

Ein Teil der Bevölkerung ist somit bei längerer Krankheit von Armut bedroht. Da keine ausreichenden oder überhaupt keine Leistungen vorhanden sind, sind die Betroffenen oft gezwungen, ihre Ersparnisse anzutasten oder sogar aufzubrauchen, sofern sie über solche verfügen. Manchmal sind sie gezwungen, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen oder Schulden zu machen. Diese implizite Verlagerung des Risikos auf den Einzelnen und die öffentliche Hand belastet wahrscheinlich die Kantone, auch wenn keine Daten vorliegen, um das Ausmass genau zu beziffern.

All dies ist Ausdruck einer Gesellschaft, in der eine Krankheit, die jeden treffen kann, nicht nur ausreicht, um eine Person in die Armut zu stürzen oder eine berufliche Laufbahn zu zerstören, sondern auch bestimmte Unternehmen zu gefährden.

Andere Länder haben gehandelt

Das Schweizer Sozialschutzsystem wurde schrittweise aufgebaut, zwischen liberalen Traditionen, gegenseitiger Hilfe und Anpassungen an die industrielle Revolution. Die ersten Hilfsvereine entstanden Ende des 19..Jahrhunderts. Auch heute noch prägt diese Logik der Eigenverantwortung und der freiwilligen Vorsorge die Verwaltung des Erwerbsausfallrisikos im Krankheitsfall.

Die Arbeitswelt hat sich jedoch grundlegend verändert. Die Beschäftigungsformen sind fragmentierter, lineare Karrieren sind die Ausnahme, und chronische oder psychische Erkrankungen wie Burn-out nehmen zu. Das Recht hinkt hinterher und bietet keine angemessene Antwort. Während andere Länder wie Deutschland, Frankreich oder die nordischen Länder die Absicherung des Krankheitsrisikos in eine obligatorische Grundversorgung integriert haben, hält die Schweiz an einem selektiven und ungleichen Modell mit seinen häufig schwerwiegenden und schädlichen Folgen fest.

Weiterführende Informationen

Die obligatorische Krankentaggeldversicherung: die grosse Lücke im aktuellen Sozialversicherungssystem, Monatsdossier von Artias, erstellt von Pierre-Yves Carnal, Juni 2025

Camille Zimmermann
Juristin Artias