Wenn ein Sozialamt seine Datenablage digitalisiert, setzt es sich einer umfassenden Transformation aus. Die Digitalisierung der Daten ist für ein Sozialamt und seine Mitarbeitenden ein beschwerliches und kräfteraubendes Projekt.
Transformation in der sozialen Arbeit

Digitalisierung heisst: Kein Stein bleibt auf dem anderen

08.09.2025
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Wer kann sich noch an Telefonapparate erinnern, die eine Wählscheibe zum Drehen hatten? Noch nicht so lange her – oder? Inzwischen hat künstliche Intelligenz (KI) in unseren Alltag Einzug gehalten. Willkommen im digitalen Zeitalter mit seinem rasanten technologischen Wandel!

Sozialämter tun gut daran, sich mit dieser Entwicklung jetzt auseinanderzusetzen. Nicht etwa, um möglichst modern zu wirken. Sondern weil das Geschäft mit Daten sehr komplex geworden ist und wir sehr viel Expertise benötigen, wenn wir sicher in digitalen Räumen agieren wollen. Immerhin verwalten Sozialämter hochsensible Daten über eine verletzliche Gruppe Menschen. Weiter muss es das Fernziel sein, durch Digitalisierung den Anteil der «manuellen» Verwaltung relevant zu senken. So würden wertvolle Ressourcen für die soziale Arbeit frei.

Die Städte Bern, Zürich und Basel haben sich vor mehr als zwölf Jahren dazu entschlossen, sich dem technologischen Wandel zu stellen. Gemeinsam sind sie auf die Suche nach einer zeitgemässen Fallführungssoftware gegangen. Im Sommer 2023 wurde das neue System in Bern eingeführt. Zürich stellte zu Jahresbeginn 2025 um, und Basel wird in ein paar Monaten folgen. Das neue System hat in den Grundprozessen von Beginn an funktioniert, und technisch betrachtet sprechen wir von einer gelungenen Umstellung. Nur eben: Technisch ist nicht praktisch!

Die Einführung eines neuen Fallführungssystems ist für ein Sozialamt und seine Mitarbeitenden ein sehr beschwerliches, kräfteraubendes Projekt. Wer glaubt, bei der Digitalisierung scanne man einfach das Papierdossier und verwalte alles wie gehabt, aber einfach auf dem Computer, unterschätzt die Sache erheblich. Wer digitalisiert, setzt sich einer umfassenden Transformation aus. Kein Stein bleibt auf dem anderen.

Die letzten zwei Jahre waren für das Sozialamt Bern und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr als anspruchsvoll, und wir brauchen noch Kraft, um den Transformationsprozess abzuschliessen. Viel ist erreicht. Doch gibt es nach wie vor einiges aufzuarbeiten. Dennoch: Der Fortschritt ist sichtbar. Und ist der Wandel einmal verdaut, haben wir gute Chancen, die Digitalisierung für unsere Klientel positiv zu nutzen. Da liegt viel Potenzial.

Was haben wir gelernt? Was würden wir anderen Sozialdiensten raten, damit ihre digitale Transformation gelingt? Wohl Folgendes:

  • Digitalisierung ist teuer. Nicht nur die Beschaffung und/oder die Entwicklung einer Lösung kostet Geld, sondern es braucht auch über längere Phasen deutlich mehr personelle Ressourcen, damit die Umstellung gelingt. Dafür muss die Politik im Vorfeld und während des Projekts immer wieder gewonnen und abgeholt werden. Die Medien werden den Prozess aufmerksam beobachten und kritisch berichten. Eine transparente, sorgfältige und regelmässige Kommunikation nach innen wie nach aussen ist empfohlen.
  • Digitalisierung bedeutet viel Kleinarbeit. Im Vorfeld einer Datenmigration wird meist eine umfassende Datenbereinigung nötig. Nach der Migration müssen oft unzählige Fehler per Hand ausgemerzt und die Pendenzenberge, die infolge von Verlangsamung und Funktionalitätsmängeln entstanden sind, abgearbeitet werden. Papierakten müssen eingescannt und digitale Dossiers vervollständigt werden. Der Aufwand wird meist völlig unterschätzt. Um den stemmen zu können, braucht es nicht nur ein professionelles Migrationskonzept, sondern auch personelle Ressourcen und damit unter anderem einen mutigen Plan, welche Arbeiten und/oder Leistungen der Dienststelle vorübergehend zurückgefahren werden.
  • Digitalisierung bringt eine andere Logik, mehr Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit mit sich. Hier liegt auch ihr Potenzial. Um dieses zu nutzen und effizienter zu werden, müssen bestehende Prozesse neu gedacht werden. Meist ist später auch eine Reorganisation nötig. Um Prozesse ideal digital abzubilden und zu dokumentieren, braucht es Fachleute, die Businessanalyse und Prozessengineering können. Die arbeiten heute nicht auf Sozialämtern, sondern müssen engagiert werden.
  • Ein Fallführungssystem wird von Menschen bedient. Benutzerfreundlichkeit ist also zentral. Sie steigt, wenn die «Benutzerinnen» und «Benutzer» frühzeitig und in jede Projektphase einbezogen sind. Schwarmintelligenz ist kein Modetrend, sondern eine Ressource. Partizipation an der Systementwicklung schafft zudem breites Commitment für eine beschwerliche Reise und Toleranz gegenüber Unwegsamkeit.
  • Spezialapplikationen werden heute agil und oft im Betrieb fertig entwickelt. Das macht Sinn, wenn man massschneidern muss. Dadurch wird aber über längere Zeit mit einer Betaversion gearbeitet, und ein Teil der Prozesse muss über provisorische Umgehungslösungen abgedeckt werden. Personal bleibt zudem mit Entwicklungsarbeiten absorbiert. Diese Situation ist aufwendig und nervenaufreibend. Softwarelieferanten müssen deshalb unerbittlich angehalten werden, rasch nachzuliefern und zusammen mit der Crew des Sozialamtes dranzubleiben. Gleichzeitig muss die Entwicklung gut überwacht werden. Es braucht laufend Entscheide über das weitere Vorgehen und eine strikte Priorisierung. Sonst laufen die Kosten rasch aus dem Ruder.
  • Moderne Datenverwaltungssysteme sind komplex. Es braucht Expertise, um damit arbeiten zu können. Die Mitarbeitenden brauchen Zeit, diese aufzubauen. Sie müssen früh, genug und wiederkehrend geschult werden. Eine Testumgebung sollte für alle zugänglich sein, damit geübt werden kann, ohne Schaden anzurichten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Sozialdiensten sind pflichtbewusst und möchten, dass es primär der Klientel gut geht. Ohne Entlastung im Tagesgeschäft und förderliche Rahmenbedingungen werden sie die besten Schulungs- und Übungsangebote nicht nutzen.
  • Die Leitung eines Sozialdienstes muss sich bewusst sein, dass es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind, die alles, was bei der Digitalisierung schiefläuft, ausbaden müssen. Allen voran diejenigen, die sich um administrative Arbeiten kümmern. Die Umstellung löst Unsicherheit, Angst, Ärger, gefühltes Chaos und hohe Mehrbelastung beim Personal aus. Die Fluktuation und die krankheitsbedingten Absenzen steigen stressbedingt. Gänzlich vermeiden lassen sich diese Folgen nicht. Aber sie sind beeinflussbar, wenn dem Personal Sorge getragen wird. Das Wichtigste ist, zusätzliche Ressourcen und Entlastung zu schaffen. Leitungen tun aber auch gut daran, Verantwortung für die Transformation zu übernehmen und dafür einzustehen. Gleichzeitig müssen sie die Kritik der Mitarbeitenden ernst nehmen, mit ihnen den direkten Dialog suchen, sich immer wieder für die unzähligen Extrameilen bedanken, Belohnungen und Entschuldigungen aussprechen und echte Wertschätzung zeigen. Ohne engagiertes Personal geht auch das beste Digitalisierungsprojekt in die Knie.
  • Und last but not least: Die Klientinnen und Klienten des Sozialdienstes werden bemerken, dass es holpert und einiges nicht mehr zuverlässig funktioniert. Das löst nicht nur Angst aus, sondern diese ist auch begründet. Beim Risikomanagement in Bezug auf das Projekt sollten die Gefahren für die Klienten einen entsprechend hohen Stellenwert geniessen. Notfallkonzepte braucht es ohnehin. Es hilft zudem, wenn die Klientel früh und wiederholt über das Projekt informiert wird und ihr während der Umstellungsphase niederschwellige Anlaufstellen für ihre Sorgen zur Verfügung stehen. Es darf auch positiv bemerkt und verdankt werden, wie viel Geduld, Verständnis und Entgegenkommen die Klientinnen und Klienten aufbringen.

Und nun: Gutes Gelingen!

 

Claudia Hänzi
Vizepräsidentin SKOS
Leiterin Sozialamt Stadt Bern