Persönliche Hilfe

Ein Hausarzt für die sozialen Probleme

08.03.2021
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Die letzte Ausgabe des Sozialberichts des Kantons Waadt zeigt auf, wie viele soziale Massnahmen im Laufe der Jahre eingeführt wurden. Doch die administrative Komplexität hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Man macht sich deshalb innerhalb der Verwaltung Gedanken, wie die Verständlichkeit und Zugänglichkeit von Leistungen verbessert werden kann. Die persönliche Hilfe, so die Überzeugung in der Waadtländer Verwaltung, sollte von der finanziellen Hilfe abgekoppelt und für die ganze Bevölkerung zugänglich sein. Der Hausarzt fungiert hier als Vorbild für ein neues Reorganisationsprojekt.

Der Reichtum und zugleich die Schwäche des Föderalismus liegt im kantonalen Spielraum, Regelungen nach spezifischen Bedürfnissen, aber auch nach den aktuellen politischen Möglichkeiten zu schaffen. So konnte der Kanton Waadt Ergänzungsleistungen für Familien, eine kantonale Überbrückungsrente (subsidiär zu den eidgenössischen Übergangsleistungen für ältere Arbeitslose) und einen spezifischen Prämienverbilligungszuschuss einführen. In der Vergangenheit hat der Kanton Waadt auch andere neuartige soziale Leistungen entwickelt, wie zum Beispiel die Betreuungszulage für Eltern eines behinderten Kindes. Er hat auch Leistungen eingeführt, die in teilweise ähnlicher Form in anderen Kantonen zu finden sind.

Ein weiteres Projekt, auch im Sinne der Armutsprävention, ist jetzt in Planung. Jeder Einwohner des Kantons sollte ohne administrative Hürden oder Angst vor Stigmatisierung Zugang zu Unterstützungs- oder Begleitdiensten haben, unabhängig von seiner persönlichen Lage. Mit diesem Wunsch nach universeller sozialer Unterstützung sollte auch eine Person mit ausreichenden finanziellen Mitteln eine Begleitung oder Beratung von einer anerkannten Stelle erhalten, wenn sie mit schwierigen Ereignissen fertig werden muss (Verwitwung, Scheidung, Eintritt in eine Einrichtung usw.).

Die soziale Unterstützung der Bevölkerung muss jedem zugänglich sein. Inspiration für das Reorganisationsprojekt im Sozialbereich ist das Gesundheitswesen mit dem Hausarzt. Es ist geplant, in jeder Region des Kantons ein primäres Sozialsystem mit lokalen Räumlichkeiten zu schaffen, mit universellem und nicht stigmatisierendem Zugang für alle. Als Ansprechpartner bei Problemen kann eine Beraterin oder ein Berater betroffene Personen nach einer ersten Standortanalyse im sozialen System eine Anamnese vornehmen. Auf dieser Grundlage wird entweder das anfängliche Problem gelöst oder der Person eine Orientierung im sozialen System angeboten – zum Beispiel Unterstützung bei der Geltendmachung ihres Anspruchs auf finanzielle Leistungen.

Eine Begleitung bei anderen Problemen wie beim Wohnen, bei der Mobilität oder bei der administrativen Verwaltung kann ebenfalls Teil des Angebots sein. Um Armut oder Prekarität vorzubeugen und bereits im Vorfeld eines möglichen finanziellen Sozialhilfebedarfs sollte jeder Person geholfen werden, die sich in Schwierigkeiten befindet, die zu materieller oder sozialer Not führen können. Die geplante soziale und medizinisch-soziale Massnahme stützt sich grundsätzlich auf der kantonalen Vorstellung von einer Solidarität innerhalb der gesamten Bevölkerung. Staatliche Leistungen müssen jeder Bürgerin und jedem Bürger zugänglich sein. Indem niemand vom System ausgeschlossen wird, wird der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft gestärkt. Dabei kann sich die angebotene Leistung von einer einfachen Beratung bis hin zur Auszahlung einer erheblichen finanziellen Unterstützung erstrecken.

So nah wie möglich bei den Leuten

Dieses System einer sozialen Anlaufstelle sollte analog zu den Hausärzten räumlich so nah wie möglich bei den Menschen angesiedelt sein, auf dem Land und in den Stadtvierteln. Vorstellbar wäre auch, dass sich beispielsweise mobile Teams um diese Aufgabe kümmern. Sie könnten dadurch mehrere Orte derselben Region abdecken. Wichtig ist, dass das Konzept für das System eines sozialen Hausarztes auch Wissen über Nichtbezug von Sozialleistungen umfasst, denn es geht ja gerade darum den Nichtbezug möglichst zu vermeiden. Ein wichtiger Aspekt ist auch die Dossierführung. Es muss von Anfang an via ein gemeinsames Informationssystem und administrative Verwaltungsstandards ein Informationsfluss zwischen den Fachleuten der verschiedenen Systeme stattfinden. Durch ein koordiniertes Vorgehen und eine gute Dossierführung muss der Antragsteller somit seine Situation nicht jedes Mal neu erklären und die gleichen Unterlagen mitbringen.

Im gegenwärtigen Stadium bleiben noch viele praktische Aspekte zwischen der Direktion, den politischen Verantwortlichen und den Verantwortlichen der Regionen sowie den Vertretern der Gewerkschaften und des Berufsverbands Avenir Social sowie anderen interessierten Akteuren zu diskutieren. Dieses Projekt wird unbestreitbar zu einer Neudefinition der Sozialarbeit in der öffentlichen Verwaltung führen. Trotz einigen noch offenen Fragen konnte die Präsentation dieser Strategie bereits eine breite Unterstützung in der Praxis und der Politik erfahren. Damit stehen die Zeichen gut, dass das neue System wie von der Direction générale de la cohésion sociale (DGCS) des Kantons Waadt geplant bis 2026 eingeführt werden kann.

Fabrice Ghelfi
Directeur général de la cohésion sociale