Bei der Untersuchungshaft mit 23 Stunden Einschliessung am Tag und keinem Kontakt zur Aussenwelt ist Hans Wirz oft die einzige Bezugsperson nebst dem Gefängnispersonal.
Reportage

«Ich schätze das soziale Engagement»

03.03.2023
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Pensionierte Fachkräfte von Auxilia Formation besuchen straffällig gewordene Personen in Gefängnissen und bieten individuelle Weiterbildungsmöglichkeiten in verschiedenen Fächern an. Der Verein arbeitet mit Vollzugsanstalten in der Westschweiz und im Kanton Bern zusammen. Oft sind die freiwilligen Helfer die einzige Bezugsperson für die Inhaftierten.

Das Untersuchungsgefängnis in Thun liegt eingepfercht zwischen der Allmendstrasse und den Bahngleisen gegenüber der grossen Militärkaserne im Westen der Stadt. Es ist ein schlichter grauer Bau, umgeben von einem hohen Zaun. Hans Wirz gibt hier einmal wöchentlich Sprachunterricht. Der 72-Jährige ist nicht wie die meisten Freiwilligen ein pensionierter Lehrer, sondern war 40 Jahre im Aussendepartement tätig, zuletzt in Antanarivo, der Hauptstadt Madagaskars. Nach einem erfüllten Erwerbsleben zurück in der Schweiz suchte er nach einer sinnstiftenden Tätigkeit. «Von 100 auf null war für mich schwierig, ich brauchte eine sinnvolle Beschäftigung.» Schliesslich wurde er auf die Organisation Auxilia Formation aufmerksam, einen Verein, der in Haftanstalten Kurse anbietet. Weil er fliessend Französisch, Englisch und Italienisch spricht, meldete er sich bei der Organisation, um seine Dienste als Sprachlehrer anzubieten. Seither unterrichtet er unter anderem im Thuner Untersuchungsgefängnis vor allem Französisch und Englisch.

Während sich die Sicherheitsvorkehrungen in der Vollzugsanstalt Thorberg «fast wie am Flughafen» anfühlten, sind die Kontrollen in Thun etwas lockerer. Hans Wirz muss elektronische Geräte, seine Jacke und den Rucksack in einem Schliessfach deponieren und einige Türen passieren, bis er im Unterrichtszimmer ankommt. Mitnehmen darf er einzig seine Kursunterlagen. Ein Zivildienstleistender bringt ihm dann die Schüler. «Obwohl ich früh aufstehen muss, freue ich mich jeweils auf den Montag, wenn ich wieder unterrichten kann.» Bei der Untersuchungshaft mit 23 Stunden Einschliessung am Tag und keinem Kontakt zur Aussenwelt ist Hans Wirz oft die einzige Bezugsperson nebst dem Gefängnispersonal. Die Schüler kämen daher gerne und er habe etwas zu tun, so hätten beide Parteien etwas davon, meint er schmunzelnd. Die Lehrerinnen und Lehrer von Auxilia Formation arbeiten ehrenamtlich, sie erhalten lediglich ihre Reisespesen vergütet.

Vorwiegend junge Männer, die «Seich» gemacht haben

Die Vollzugsanstalten und Untersuchungsgefängnisse sind zu 90 Prozent mit Männern belegt. Hindelbank als einziges Frauengefängnis im Kanton Bern wollte keine Kooperation, trotz mehrmaligen Versuchen, wie der Präsident des Vereins, Dominique Boillat, erzählt. Dafür ist der Verein unter anderem sehr aktiv im Frauengefängnis La Tuilière in Lonay nahe Lausanne. Pro Schülerin oder Schüler und Monat verlangt Auxilia 25 Franken, was in der Regel über den Ausbildungskredit des Gefängnisses finanziert wird.

Seine Augen beginnen zu leuchten, wenn Hans Wirz vom Unterricht mit den Insassen erzählt. Es sind intelligente junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren, die in der Schweiz ein besseres Leben führen wollen. Sie hätten keine kriminelle Ader per se, sondern hätten eben einen «Seich» gemacht und müssten nun dafür geradestehen, meint der gebürtige Thurgauer. Es geht meist um Betrug oder um Delikte mit verbotenen Substanzen. Wie lange er seine Schüler im Untersuchungsgefängnis unterrichten kann, hängt immer von der Justiz ab; manchmal sind sie plötzlich weg. Eines haben die meist ausländischen Studenten gemeinsam: Sie sind wissbegierig und freuen sich jedes Mal auf den Unterricht.

Hans Wirz ist nicht nur Lehrer, er schätzt auch das soziale Engagement, das mit seinem Auftrag verbunden ist. Olivier Aebischer, Kommunikationsverantwortlicher des Amtes für Justizvollzug im Kanton Bern, bestätigt, dass die Arbeit mit den Insassen mehr soziale Arbeit ist als Strafe. «Die einzige Strafe ist der Entzug der Freiheit», wie er bekräftigt. Es gehe darum, dass die Personen ihre Fehler hinter sich lassen und wieder Tritt fassen können in der Gesellschaft, was oftmals auch gelingt. Nur bei Suchtproblematiken sei es schwieriger, da ist die Rückfallquote deutlich höher.

Sprachkurse sind beliebt

Der Lehrer entscheidet selbst, wie lange eine Lektion dauert, meist sind es um die 50 Minuten. An einem Vormittag kann Hans Wirz somit drei Personen unterrichten. «Aufgaben sind freiwillig, einige machen sie, andere wiederum weniger, das ist aber eher nebensächlich.» Für Französisch hat der Verein eigene Lehrmittel, für die anderen Sprachen recherchiert Hans Wirz selbst im Internet oder besorgt sich Unterrichtsmaterial im Fachgeschäft. Auxilia Formation erteilt auch betriebswirtschaftliche Kurse, dies jedoch derzeit nur in der französischen Schweiz. Bei den Jungen ist vor allem Englisch sehr beliebt, da man die Sprache in der digitalen Welt sehr oft nutzt. Viele junge Menschen haben in der Schule mal Englisch gelernt und nutzen nun die Gelegenheit, im Gefängnis ihre Sprachkenntnisse entweder zu erlernen, aufzufrischen oder zu vertiefen.

Hans Wirz unterrichtet derzeit einen Italiener, der blutiger Anfänger ist im Englisch. Er habe «draussen» nie die Möglichkeit dazu gehabt, Englisch zu lernen, und es mache ihm Freude, dies nun nachzuholen. Er hat Spass am Lernen. Er möchte später zurück in seine Heimat, um dort im Tourismus zu arbeiten, da könne er die neu erworbenen Sprachkenntnisse gut einsetzen. Schade findet er nur, dass nur eine Lektion pro Woche möglich ist, er würde gerne mehr lernen. Der Franzose, der Englisch zwar schon gut beherrschte, sich jedoch mit der Aussprache abmühte, wurde inzwischen verlegt. «Wir erfahren nie, wann so etwas geschieht», bedauert Hans Wirz. Für seine Englischstunden recherchiert er im Internet oder kauft entsprechendes Material im Fachhandel. «Bis 45-jährig geht das mit dem Lernen gut, wenn sie jedoch älter sind, ergibt es nicht mehr viel Sinn, dann sind sie zu sehr mit sich beschäftigt und können nichts mehr aufnehmen», hat Hans Wirz die Erfahrung gemacht. Er habe auch schon mal eine Zusammenarbeit abgelehnt, aber meist laufe es gut.

Einfach zuhören

Es geht aber nicht nur darum, die Sprache zu lernen. Oftmals erzählen die Insassen ihre Geschichten. «Wenn sie mal anfangen, ist es wie ein Wasserfall, sie erzählen ihr ganzes Leben, ihren Kummer und ihre Sorgen», schildert Hans Wirz nachdenklich. Die Auxilia-Lehrpersonen hören zu, mischen sich aber nicht in laufende Verfahren ein. «Wir sind weder Psychologen noch Anwälte, wir sind nur Lehrer.» Es braucht eine gehörige Portion Empathie, damit man sich auch abgrenzen kann. «Wenn ich genug gehört habe, dann kann ich immer wieder auf den eigentlichen Zweck des Besuchs zurückkommen – den Unterricht.»

Bei der Suche nach geeigneten Lehrpersonen legt der Verein Wert darauf, dass Interessierte die richtige Einstellung haben. Der Präsident des Vereins, Dominique Boillat, hat selbst 13 Jahre lang unterrichtet und weiss, wovon er spricht. Er prüft die Bewerbungen interessierter Personen persönlich und hat schon einige Male ablehnen müssen, weil das Profil nicht stimmte, da zu wenig Erfahrung oder zu geringe Sprachkenntnisse vorhanden waren. Er habe schon oft junge Leute eingestellt, Studenten oder Personen, die am Anfang ihrer beruflichen Karriere standen. Nach einigen Monaten wechselten sie ihre Arbeitsstelle oder ihren Wohnort und konnten nicht mehr weitermachen. Die Verfahren zur Einstellung von Lehrkräften seitens der Kantone und der Gefängnisse seien jedoch teils sehr schwerfällig und langwierig, und eine Person für drei Monate einzustellen, lohne sich nicht und sei sehr frustrierend, sagt Boillat.

Ungewisse Zukunft des Vereins

Mittlerweile gibt es andere ähnliche Angebote in den Gefängnissen, beispielsweise die 2007 vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH Zentralschweiz entwickelte BiSt, Bildung in der Strafanstalt. Es wird zudem immer schwieriger, Lehrpersonen zu finden. Dominique Boillat stellt fest, dass viele zwar bereit sind, sich als Freiwillige zu engagieren, aber nicht auf Dauer. «Das Unterrichten setzt jedoch ein Engagement von mindestens einem Jahr voraus, eher von zwei Jahren oder mehr», meint er, «und vergessen wir nicht, dass ein solches Engagement jede Woche einen Tag blockiert ...»

Auxilia Formation entstand 1926 in Frankreich. Marguerite Rivard war Paraplegikerin und bat eine ebenfalls kranke Lehrerin, ihr Sprachunterricht zu erteilen. Daraus entwickelte sich die Idee zu einer ehrenamtlichen Dienstleistung, die sich erst 50 Jahre auf Spitäler und später auch auf Gefängnisse konzentrierte. Das Beispiel machte ebenfalls Schule in Belgien, Italien, Spanien und seit 1984 auch in der Schweiz. Derzeit unterrichten 19 Lehrkräfte in neun Anstalten in den Kantonen Bern, Genf, Freiburg, Jura und Waadt etwa 150 Insassen. Für mehr Informationen: www.auxilia-formation.ch

Iris Meyer 
Redaktion