Im Gespräch

«In der Pandemie wurden soziale Risiken für einmal nicht abgeschoben»

05.12.2022
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Nach fast drei Corona-Jahren zieht SKOS-Geschäftsführer Markus Kaufmann Bilanz. Im Interview sagt er, warum die Krise weniger stark in der Sozialhilfe angekommen ist als befürchtet – und weshalb es für eine Entwarnung trotzdem zu früh ist. Auch bei vielen anderen Entwicklungen bleibe die SKOS gefordert.

ZESO: Ende 2022 ist die Corona-Pandemie vielleicht noch nicht definitiv vorbei, aber das Gröbste scheint überstanden. Welche Bilanz ziehen Sie aus den fast drei Corona-Krisenjahren?

Markus Kaufmann: Ich finde es eindrücklich, wie schnell und effizient das System der sozialen Sicherheit in der Schweiz reagiert hat: mit ausgebauten Leistungen in der Arbeitslosenversicherung, mit der Erwerbsersatzentschädigung und weiteren Massnahmen. Aus früheren Debatten kannten wir das Abschieben der Risiken – mit dem Resultat, dass am Schluss die Sozialhilfe als letztes Netz sie auffangen musste und dadurch überlastet wurde. Das fand diesmal nicht statt, und Politik und Bevölkerung stellten sich mehrheitlich dahinter.

Die SKOS prognostizierte zu Beginn der Pandemie einen Anstieg der Fallzahlen in der Sozialhilfe, doch dieser trat weder 2020 noch 2021 ein. Waren Sie zu pessimistisch?

Nein, ich glaube nicht. Was klar war: Viele Menschen waren wirtschaftlich gefährdet, besonders solche mit tiefen Einkommen und in prekären Verhältnissen. Danach erfolgte eine starke Reaktion, Hilfsangebote in den der Sozialhilfe vorgelagerten Versicherungen wurden aufgezogen. Das ist einer der Gründe, warum die Krise weniger stark in der Sozialhilfe angekommen ist als befürchtet. Zudem läuft die Wirtschaft in der Schweiz gut. Und wegen des Fachkräftemangels in vielen Branchen finden zunehmend Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger Arbeit – mindestens jene, die über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen.

Während die Pandemie weltweit die Armut verschärft hat, ist sie in der Schweiz weitestgehend stabil geblieben. Ist die Schweiz also wieder einmal die Insel der Seligen, der selbst eine solche Jahrhundertkrise wirtschaftlich nicht viel anhaben kann?

Ganz so rosig ist es nicht, aber mir ist es wichtig, auch das Positive zu erwähnen. Wir sehen schon Risiken, dass die Fallzahlen in der Sozialhilfe später doch noch steigen könnten. Wer in der Pandemie wirtschaftliche Einbussen erlitten und von den Reserven gelebt hat, kann bei der nächsten Krise in eine Armutssituation geraten. Zudem verzeichnet das SECO mehr Langzeitarbeitslose als 2019. Wie viele von ihnen in den nächsten Jahren auf Sozialhilfe angewiesen sein werden, wissen wir nicht. Was die Pandemie ebenfalls schlagartig sichtbar machte: Es gibt in der Schweiz Menschen, die keinen Zugang zu den sozialen Netzen haben, auch nicht zur Sozialhilfe.

Sprechen Sie die Schlangen von Menschen an, die in Städten für Gratislebensmittel anstanden?

Ja, das waren bedrückende Bilder. Die Betroffenen waren Sans-Papiers und auch Personen, die keine Sozialhilfe beziehen, obwohl sie berechtigt wären. Der Nichtbezug von Sozialhilfe wird in der Praxis seit einigen Jahren beobachtet. Menschen schämen sich ihrer Armut oder glauben, die teils restriktiver gewordenen Vorgaben nicht zu erfüllen. Zudem verschärft die Schweiz seit einigen Jahren die gesetzlichen Grundlagen im Ausländerrecht. Aus Furcht vor Ausweisung verzichten Bedürftige auf Sozialhilfe und geraten in prekäre Armut.

Welche Lehre gilt es da aus Ihrer Sicht zu ziehen?

Das Problem wird seit der Pandemie erkannt, das stimmt mich positiv. Der Nationalrat hat diesen Herbst einer parlamentarischen Initiative von Nationalrätin Samira Marti zugestimmt: Ausländerinnen und Ausländer, die von der Sozialhilfe abhängig werden, sollen deswegen ihr Aufenthaltsrecht nicht verlieren, wenn sie seit mindestens zehn Jahren ununterbrochen in der Schweiz gelebt haben und ihre Lage nicht mutwillig herbeigeführt haben. Es ist tatsächlich sehr stossend, dass jemand wegen regulären Sozialhilfebezugs die Aufenthaltsbewilligung verlieren kann.

Die gesundheitlichen Langzeitfolgen der Pandemie sind im Moment schwer abzuschätzen, Stichwort Long Covid. Was kommen da noch für Kosten auf die Sozialwerke zu?

Long Covid ist eine Erkrankung, darum ist die Invalidenversicherung zuständig. Diese hat auch andere grosse Herausforderungen zu gewärtigen. Wir brauchen deshalb in den nächsten Jahren eine starke und gut finanzierte IV. Doch sie schleppt seit bald einer Generation Schulden mit, deren Abbau nicht ohne massive Leistungskürzungen zu haben sein wird. Und das würde unweigerlich zu einer starken Verlagerung in die Sozialhilfe führen. In der NZZ habe ich den Vorschlag einer erweiterten Solidarität unter den obligatorischen Sozialversicherungen eingebracht – ähnlich, wie das heute schon durch den Lastenausgleich zwischen reicheren und ärmeren Kantonen geschieht.

Wie würde so ein Ausgleich unter den Sozialversicherungen funktionieren?

Die Suva als grösste und öffentlich-rechtliche Unfallversicherung der Schweiz verfügt über ein Vermögen von derzeit rund 60 Milliarden Franken. Sie könnte einen Teil der IV-Schulden übernehmen. Das Unfallrisiko ist durch den Wandel in der Gesellschaft zurückgegangen, während alle Risiken für psychische oder psychosomatische Erkrankungen sehr stark zugenommen haben. Anfang der 2010er-Jahre haben die IV wie auch die Arbeitslosenversicherung ihre Zugangskriterien verschärft. Das führte zu einem Anstieg der Fallzahlen in der Sozialhilfe und zu einem sehr hohen Druck auf diese. Die Sozialhilfe übernimmt Aufgaben, die die vorgelagerten Versicherungen zu leisten hätten. Dass es auch anders geht, hat die Pandemie gezeigt.

Noch vor dem Ende der Corona-Krise folgte mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine die nächste Krise mit zahlreichen Folgen auch für die Schweiz. Die Sozialdienste mussten sich um zahlreiche aus der Ukraine geflüchtete Menschen kümmern. Sie fallen mit dem Schutzstatus S unter die Asylsozialhilfe. Was ist die Rolle der SKOS dabei?

Die SKOS-Richtlinien gelten für die Regelsozialhilfe, in der Asylsozialhilfe ist die SKOS lediglich beratend tätig. In Zusammenarbeit mit der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren publizieren wir bei den Ukraineflüchtlingen Antworten auf Fragen, die an uns herangetragen werden. Mit den Ukrainerinnen und Ukrainern kamen Kriegsflüchtlinge aus einem Land zu uns, das näher am europäischen Lebensstandard ist. Üblicherweise kommen Asylsuchende nicht mit dem Auto in die Schweiz. Da galt es Einiges zu klären, wie etwa: Sollen die Fahrzeuge angerechnet werden? Und was, wenn jemand mit Job in der Ukraine von hier aus weiterarbeitet?

Ergibt es noch Sinn, bei der ordentlichen Sozialhilfe und der Asylsozialhilfe unterschiedliche Wege zu gehen?

Das diskutieren wir im Moment. Wir sehen jetzt bei den Ukraineflüchtlingen, dass viele Sozialdienste auch die Asylsozialhilfe übernehmen und enorm gefordert sind. Generell nimmt der Anteil von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen in der öffentlichen Sozialhilfe von Kantonen und Gemeinden zu, auch weil die finanzielle Verantwortung des Bundes nach einigen Jahren an sie übergeht. Darum kommt verstärkt die Frage auf die SKOS zu, ob sie nicht auch bei der Asylsozialhilfe Vorschläge zur Harmonisierung machen soll. Die Mehrheit unserer Mitglieder begrüsst dies, wie eine Befragung zu einem entsprechenden Grundlagenpapier ergab.

Da fassen Sie politisch ein heisses Eisen an.

Es ist die Aufgabe der SKOS, sachlich und fachlich zu argumentieren. Wir stellen einfach Widersprüche fest. Mit der Integrationsagenda wollen Bund und Kantone Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene möglichst rasch in den Arbeitsmarkt integrieren, damit sie weniger von der Sozialhilfe abhängig sind. Zugleich liegen die kantonalen Ansätze in der Asylsozialhilfe zum Teil unter der Hälfte des Grundbedarfs für den Lebensunterhalt in der Sozialhilfe. Wenn wir bei Geflüchteten, die länger in der Schweiz bleiben werden, die Integration fördern wollen, werden wir wohl nicht umhinkommen, uns auch bei diesen Gruppen an der Regelsozialhilfe zu orientieren.

Eine weitere Folge des russischen Angriffskriegs sind die gestiegenen Preise. Die Preise waren in der Schweiz lange stabil, jetzt ist auch hierzulande eine Teuerung zu verzeichnen. Entsteht da ein neues Armutsrisiko?

Ärmere Haushalte, die nicht über Reserven verfügen, sind von der Teuerung sicher stärker betroffen. Wichtig ist, bei den Systemen der sozialen Sicherheit darauf zu reagieren, auch was den Grundbedarf in der Sozialhilfe betrifft. Jahrzehntelang hatten wir keine Teuerung in der Schweiz. Deshalb ist es ungewohnt, den Grundbedarf spürbar zu erhöhen. Doch jetzt empfehlen wir das und stellen dabei wie immer auf die Fakten ab. Die Teuerung im Sozialhilfebereich beläuft sich im Moment auf etwas über zwei Prozent, mit steigender Tendenz.

Die SKOS schlägt einen Teuerungsausgleich beim Grundbedarf von 2,5 Prozent vor.

Genau, unser Vorschlag orientiert sich an der Anpassung der AHV- und IV-Renten, wie der Bundesrat sie beschlossen hat. Im Parlament sind Vorstösse hängig, die darüber hinausgehen wollen. Wenn diese angenommen werden, soll dies auch in der Sozialhilfe nachvollzogen werden. Die Stromkosten hat die SKOS separat angeschaut, weil es dort im Moment wie im Casino zugeht. In gewissen Gemeinden sind die Stromkosten viermal höher als in anderen, eine Pauschalisierung ist kaum möglich. Deswegen schlagen wir vor, die Stromkosten in der Sozialhilfe neben dem Grundbedarf separat abzugelten. Auch die Heizkosten sollen im Rahmen der Mietnebenkosten voll abgedeckt werden, auch wenn damit die Mietzinslimite überschritten wird.

Gehen Sie davon aus, dass die Kantone die Empfehlungen umsetzen werden?

In den letzten Jahren setzten jeweils rund drei Viertel der Kantone die Empfehlungen der SKOS und der SODK um, ein Viertel blieb darunter. Die SODK empfiehlt den Kantonen dieses Mal, die Anpassung in ihren Sozialhilfeerlassen möglichst bald, nachzuvollziehen, das heisst ab 1.1.2023. Die politische Diskussion in den Kantonen wird zeigen, ob der Anpassungsschritt gemacht wird.

Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und explodierende Energiepreise: Wie gehen Sie persönlich mit dem Krisenmodus um?

Die vielen Krisen und unruhigen Zeiten belasten auch mich emotional. Das gewohnte Leben hat sich spürbar verändert. Zugleich realisierte ich gerade während der Pandemie stark, wie gut meine persönlichen Rahmenbedingungen sind, um auf die Veränderungen reagieren zu können. So war es ein Privileg, genug Platz daheim fürs Homeoffice zu haben.

Die SKOS hat wiederholt gemahnt, dass Bildung einen höheren Stellenwert in der Sozialhilfe erhalten muss. Wann haben Sie sich eigentlich das letzte Mal weitergebildet?

Bevor ich vor sechs Jahren zur SKOS kam, absolvierte ich ein Sabbatical beim Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut. Das war eine intensive Weiterbildung. Die Arbeit bei der SKOS führt mich an viele Orte, ich sehe in die Praxis hinein und nehme an Fachtagungen teil. Es ist eine tägliche Weiterbildung.

Vor drei Jahren rief die SKOS gemeinsam mit dem Schweizerischen Verband für Weiterbildung eine Weiterbildungsoffensive in der Sozialhilfe ins Leben. Was hat sie gebracht?

Die Offensive hat gezeigt, dass bei der Weiterbildung von Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern grosses Potenzial vorhanden ist. Menschen ohne Berufsabschluss oder mit tiefer Qualifikation kommen sonst nicht so leicht an Weiterbildung heran oder trauen sie sich nicht zu. Wir merkten jetzt: Wenn wir Weiterbildungsangebote via Sozialdienste vermitteln, erreichen wir die Zielgruppe durchaus. Zugleich ist Weiterbildung eine langfristige und aufwendige Aufgabe. Es braucht ein Assessment bei den Sozialhilfebeziehenden, was überhaupt möglich ist, und es braucht Begleitung und Motivation.

2023 startet die zweite Phase der Weiterbildungsoffensive. Was erhofft sich die SKOS?

In Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeberverband prüfen wir, Branchenzertifikate stärker zu fördern. Das sind Ausbildungen unter dem Niveau eines Berufsattests. Sie können beispielsweise für den boomenden Umweltbereich interessant sein, etwa im Energiebereich oder im Recycling. Branchenzertifikate dienen als Einstieg auf einer tieferen Stufe, um später vielleicht doch noch einen Berufsabschluss zu machen. Mangelnde Bildung ist erwiesenermassen ein grosses Armutsrisiko. Über die Hälfte der erwachsenen Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger in den Städten hat keinen anerkannten Berufsabschluss. Auch die Wirtschaft hat ein Interesse, das zu ändern. Sie braucht dringend Fachkräfte.

Noch vor einigen Jahren war die öffentliche Debatte über die Sozialhilfe stark aufgeladen. Ist es gelungen, sie zu versachlichen?

Ich denke schon. Als Fachorganisation trugen und tragen wir mit Materialien zur Versachlichung bei. Durch die Zusammenarbeit mit der SODK ist die politische Ebene einbezogen, das funktioniert heute gut. Und viele Sozialdienste schauen genau hin, um Missbrauch zu verhindern. Mit der Charta Sozialhilfe Schweiz bekannten sich 2019 über 100 Gemeinden, Städte und Organisationen ausdrücklich zum untersten Sicherheitsnetz der Schweiz. Das war ein starkes Signal. Denn eine Zeit lang wurde die Sozialhilfe bloss noch als Kostenfaktor gesehen. Dabei hat sie einen grossen Nutzen und stützt den sozialen Frieden in unserem Land. Nicht zuletzt widerspiegelt sich die Versachlichung in kantonalen Urnengängen. In Bern und Basel-Landschaft waren Kompromisse mehrheitsfähig. Vorschläge, die stark von den SKOS-Richtlinien abweichen wollten, setzten sich nicht durch.

Welche Themen geht die SKOS in nächster Zeit an?

Viele Kinder und Jugendliche sind in der Sozialhilfe, in der Stadt Biel ist es aktuell fast jedes fünfte Kind. Wir müssen und wollen noch vermehrt schauen, was wir für sie tun können. Auch dem Bereich der sozialen Integration widmen wir uns verstärkt. Da geht es um Menschen in der Sozialhilfe, die trotz dem Fachkräftemangel grosse Mühe haben, eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt zu finden, weil sie über zu geringe Ressourcen verfügen. Druck hilft da nicht weiter, es braucht andere Antworten. Dazu gehören auch Einsätze in der Gemeinwesenarbeit, beispielsweise in Quartiertreffs. Die SKOS-Richtlinien sehen vor, so etwas mit einer Integrationszulage zu belohnen. Über solche sinnvollen Einsätze können diese Menschen vielleicht langfristig doch noch den Schritt in den Arbeitsmarkt machen.

Angaben zur Person

Markus Kaufmann ist seit Ende 2016 Geschäftsführer der SKOS. Kaufmann studierte Soziale Arbeit und Soziologie und hat einen Master in Public Health. Er verfügt über langjährige Erfahrung in verschiedenen Arbeitsfeldern des Sozial- und Gesundheitswesens. Der gebürtige Zofinger lebt in Liebefeld bei Bern.

Das Gespräch führten
Ingrid Hess, Zeso-Redaktionsleiterin
Susanne Wenger, freie Journalistin