Pluto heisst alle willkommen, die zwischen 14 und 23 Jahre alt sind. 
Reportage

Nächtlicher Schutzraum für junge Menschen

03.09.2023
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Seit Mai 2022 gibt es in Bern eine Notschlafstelle für Jugendliche und junge Erwachsene. Pluto ist neben Nemo in Zürich erst der zweite Zufluchtsort in der Schweiz für junge Menschen für die Nacht. Die Belegungszahlen sind alarmierend. Das Pluto-Team hat sich in kürzester Zeit zu einem bewährten Partner bei der Suche nach (Wohn-)Lösungen für junge Menschen entwickelt.

In der Kurve der Studerstrasse in der Äusseren Enge in Bern steht ein graues, schlichtes, zweistöckiges Haus mit weissen Fensterrahmen. Unter der schwarzen Hausnummer 44 steht in Kleinbuchstaben «pluto». Um das Haus ist es trotz nahe gelegener Autobahn und Baustelle still. Eine junge Frau mit langen blonden Haaren und hellem Blick öffnet die Tür. Im Eingang hängt ein Schild, auf dem Besuchende in verschiedenen Sprachen willkommen geheissen werden. Von einer Tafel schauen etliche Gesichter vertrauensvoll auf den Betrachtenden. Irgendwo läuft eine Waschmaschine. Nicole Maassen ist gerade fertig mit Putzen, die 27-jährige Masterstudentin der Sozialen Arbeit hatte letzte Nacht Dienst in der Berner Notschlafstelle für Jugendliche und junge Erwachsene, die, wie fast jede Nacht seit der Eröffnung im Mai 2022, voll belegt war.

Zuhause für die Nacht

Das Haus verfügt über sieben Schlafplätze verteilt auf vier Zimmer. Es sind schlichte, helle Zimmer mit guten Betten. Die gesamte Einrichtung wurde von einem schwedischen Möbelhaus gespendet. Gleich beim Eingang befindet sich das Büro, mit einem Schlafsofa für eine von zwei immer anwesenden Mitarbeitenden, von denen eine Fachperson der Sozialen Arbeit ist. Die zweite Person kann im hinteren Teil des Hauses schlafen. Ein Einzelzimmer befindet sich gegenüber dem Büro. «Es ist für jene reserviert, die am meisten Schutz brauchen», erklärt Nici. Junge Menschen, die mehrere Nächte im Pluto bleiben, können Bettwäsche und ihre wenigen persönlichen Gegenstände in abschliessbaren Spinden lagern. Im Erdgeschoss gibt es zwei Nasszellen. Im oberen Stock befinden sich weitere Schlafräume, ein Bad sowie ein Aufenthaltsraum, eine Küche und ein Esszimmer. Das tägliche Aufräumen und Putzen übernimmt das achtköpfige Pluto-Team jeweils gemeinsam. In der «Kleiderkammer» im Untergeschoss gibt es eine grosse Auswahl an Secondhandkleidern und -schuhen, denn viele junge Menschen kommen ohne jeglichen Besitz. «Wir achten dabei sehr darauf, dass es gute Kleider sind, damit sich die jungen Menschen wohlfühlen», betont Nici.

Junge Menschen zwischen 14 und 23 Jahre, die das Pluto aufsuchen, erhalten nebst einer Schlafgelegenheit abends eine warme Mahlzeit und morgens ein Frühstück, bevor sie das Haus wieder verlassen müssen. Die Notschlafstelle ist jeweils von 18.00 Uhr bis 9.00 Uhr und am Wochenende bis 10.00 Uhr geöffnet. Die Pluto-Mitarbeitenden achten auf ausgewogene Ernährung: «Es gibt aber fast nie Fleisch oder vegetarische oder vegane Ersatzprodukte, das ist einfach zu teuer», meint Nici. Der Verein erhält manchmal Essensspenden aus der zweiten Nahrungskette. Tierfutter ist ebenfalls vorhanden. Denn eine Besonderheit des Pluto ist, dass auch Haustiere zur Übernachtung mitgebracht werden dürfen.

Grosse Nachfrage nach Schutzraum

«Oft hat es mehr Bedarf, als Betten zur Verfügung stehen», erklärt Matthias Gfeller, Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins Rêves sûrs, der die Notschlafstelle als Pilotprojekt betreibt. «Das bedeutet für unsere Mitarbeitenden einen enormen Druck, denn sie müssen jeweils rasch entscheiden, wer bleiben darf und wer nicht.» Es wird nach Vulnerabilität und nach Alter entschieden, je jünger, je schutzbedürftiger. Nici nickt, diese Entscheidung werde immer vom Team im Konsens gefällt, und sie versuchen jeweils, für jene, die nicht bleiben können, trotzdem eine Lösung für die Nacht zu finden. «Zum Glück mussten wir das noch nicht oft entscheiden.» Nici ist sichtlich erleichtert. Rund 1200 Übernachtungen im ersten Halbjahr des Betriebs zeigen, wie wichtig das Angebot ist.

Die Notschlafstelle ist sehr niederschwellig via Instagram, TikTok, Snapchat, Whatsapp oder einfach per Telefon erreichbar. «Vorreservieren geht jedoch nicht», präzisieren Nici und Mätthu. Wichtig sei dabei die Freiwilligkeit, niemand könne gezwungen werden, hier zu übernachten. Das Pluto ist ein Schutz- und Rückzugsraum, das heisst, dass Behörden, Eltern oder gar die Polizei nicht einfach auftauchen können, es sei denn, es wurde vorher abgesprochen. Bei Minderjährigen gibt es eine Meldepflicht, die Pluto immer in Absprache mit den Nutzerinnen und Nutzern einhält. Die Mitarbeitenden arbeiten transparent und können in den meisten Fällen erwirken, dass der Aufenthalt in der Notschlafstelle von allen Beteiligten gutgeheissen wird. Gemeinsam mit den Sorgeberechtigten oder der KESB wird versucht, die schwierige Situation zu entspannen und allen Beteiligten Luft zu verschaffen und eine gute Lösung zu finden. Bei einer akuten Gefährdung einer minderjährigen Person kann auch ein superprovisorischer Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts vonseiten der KESB erwirkt werden.

Kommunikation ist das A und O

Das Anwaltschaftliche hat für Nici oberste Priorität: «Ich setze mich für die jungen Menschen ein, ich verurteile sie nicht.» Die Mitarbeitenden hören zu, beraten und begegnen den jungen Menschen auf Augenhöhe, sie tauchen in deren Lebenswelten ein und müssen keine angeordneten Massnahmen durchsetzen. «Das Angebot der Sozialberatung wird daher sehr häufig genutzt», weiss Nici. Oft suchen sich die jungen Menschen gezielt eine Bezugsperson aus, was die Pluto-Mitarbeitenden gerne zulassen. Sie können auch eigene Erfahrungen einbringen. Es erweise sich als hilfreich, über gemeinsame Erfahrungen zu sprechen, so wirkten die Sozialarbeitenden nicht wie Übermenschen, sondern seien als Persönlichkeiten spürbar. «Wir haben keine Erwartungen an die jungen Menschen, was uns ermöglicht, ihnen unvoreingenommen und wohlwollend zu begegnen», erklärt Nici. Mätthu betont, wie wichtig die Kommunikation mit den jungen Menschen sei. Es sei jedoch schwierig für Jugendliche, mit jemandem im Wissen zu sprechen, dass diese Person dann allenfalls sanktionieren müsse. «Da sagst du lieber nichts», weiss Mätthu aus eigener Erfahrung aus seiner täglichen Arbeit einer sozialpädagogischen Einrichtung. Da brauche es ein Weiterdenken in den Institutionen, damit diese Problematik erkannt werde, meint er.

Pluto hilft bei Ressourcenknappheit

Bei der hauseigenen Sozialberatung stehen anschliessende Wohnangebote, im speziellen aber begleitetes und betreutes Wohnen jeweils im Fokus. Die meisten der jungen Nutzer und Nutzerinnen gehen keiner Arbeit nach, denn Obdachlosigkeit lässt wenig Spielraum zu. Die vielerorts sehr hohe Fallbelastung in Sozialdiensten macht es teils unmöglich, sich eingehender mit den einzelnen Geschichten zu beschäftigen, und junge Menschen merken rasch, ob die Beratungsperson im Stress ist. Aufgrund von Ressourcen- oder Zeitmangel bitten andere Sozialdienste schon mal um Unterstützung in konkreten Fällen und senden jungen Menschen zu Pluto. Nici und ihre Kolleginnen und Kollegen bauen alsdann eine Beziehung auf und suchen gemeinsam mit den jungen Menschen nach nachhaltigen Lösungen. Diese Dienstleistung verrechnet Pluto der anfragenden Stelle. «Man muss die Angebote kennen. Mittlerweile haben wir unsere eigenen Listen und werden sogar von Institutionen angerufen, wenn sie freie Plätze haben. Das wissen wir sehr zu schätzen», erklärt Nici. Sie und Mätthu wissen ferner aus der Jugendarbeit, dass es oftmals schlicht zu kompliziert ist, gewisse Leistungen in Anspruch zu nehmen, weil zum Beispiel schon nur das Ausfüllen eines Antrags so kompliziert ist, dass diese Hürde für Laien und Laiinnen zu hoch ist.

Personaltreue trotz hoher persönlicher Belastung

Mätthu ist sehr stolz, dass es im Betreuungsteam von Pluto bislang nur einen Wechsel gab. Diese Beständigkeit ist für die Nutzer und Nutzerinnen von grossem Vorteil. «Es kommt oft vor, dass die jungen Menschen warten, bis eine bestimmte Person da ist, um zu reden», erklärt Nici. Somit können die Mitarbeitenden die so wichtige Bezugsarbeit leisten. Die unregelmässigen Arbeitszeiten, Nacht- und Wochenenddienste bedeuten für die Betreuenden jedoch Einbussen beim Sozialleben. Noch schwerer wirkt sich der unregelmässige Schlafrhythmus auf die Mitarbeitenden aus. «Diese zusätzlichen Belastungen dürfen nicht unterschätzt werden», warnt Mätthu, «und die Ressourcenknappheit», ergänzt Nici. Sie wünscht sich mehr Ressourcen für die Sozialberatung. Es wäre super, wenn der Verein zwei weitere Personen anstellen könnte, die jeweils tagsüber Sozialberatung anbieten könnten. «Da fehlen uns aber aktuell einfach die finanziellen Ressourcen», konstatiert Mätthu. Er persönlich bekundet Mühe damit, dass sie den jungen Menschen zwar für die Nacht Sicherheit geben können, sie aber jeweils um neun Uhr morgens wieder in deren Welt entlassen müssen. «So haben viele keine wirkliche Möglichkeit, sich ihren Kreisen zu entziehen. Der sichere Raum ist jeden Tag aufs Neue terminiert.» Es brauche mehr Anschlusslösungen, das grosse Problem sei das Weitervermitteln an andere sichere Orte.

Pilot läuft bis 2025

Die Liegenschaft an der Studerstrasse gehört der Stadt Bern, genutzt wird die Jugendnotschlafstelle aber auch von jungen Menschen von ausserhalb der Stadt und des Kantons, was bei der Finanzierung wiederum politische Fragen aufwerfen könnte. Derzeit ist es zwar geklärt, das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen, da der Mietvertrag 2025 erneuert werden muss, denn über einen Leistungsvertrag verfügt Pluto nicht. Die FHNW begleitet und evaluiert das Pilotprojekt wissenschaftlich während der ganzen Pilotphase. Ob die Finanzierung für die ganzen drei Jahre reicht, ist zwar nicht restlich gesichert. Der Vorstand bleibt jedoch optimistisch. Die hohen Auslastungszahlen sprechen eine deutliche Sprache, und der Verein bleibt zuversichtlich, dass die Jugendnotschlafstelle auch nach 2025 weiter bestehen bleiben kann.

Verein «Rêves sûrs – sichere Träume»

Der Verein hat sich 2020 aus verschiedenen Fachpersonen der Jugend- und Obdachlosenhilfe konstituiert. Die Fachpersonen haben an verschiedenen Vernetzungstreffen festgestellt, dass Jugendliche die Jugendtreffs nach Schliessung nicht verlassen wollten, um nach Hause zu gehen. Fachpersonen der Obdachlosenhilfe haben zudem wiederholt Jugendliche angetroffen, denen aufgrund ihres Alters keine sicheren Schlafplätze vermittelt werden konnten. Der Verein hat sich die prekären Wohnsituationen für junge Menschen und deren niederschwellige, freiwillige und anwaltschaftliche Unterstützung zum Hauptthema gemacht. Der Vorstand besteht aus neun Mitgliedern, die alle nebst ihrem Alltagsjob ehrenamtlich für den Verein arbeiten.

Die Notschlafstelle Pluto ist das erste Pilotprojekt des Vereins. Es wird durch Gelder verschiedener Stiftungen, kirchliche Gelder und Spenden von Privaten und Firmen finanziert. Wenn Nutzende an einen Sozialdienst o. ä. angeschlossen sind, wird versucht, eine Kostengutsprache zu erhalten. Die Nutzenden selbst werden nicht zur Kasse gebeten. Weitere Informationen zum Verein unter sichere-traeume.ch und zur Notschlafstelle unter pluto-bern.ch.

Iris Meyer 
Redaktorin