Durch verschiedene Deeskalationsstufen lassen sich Ursachen erkennen, und mithilfe von Kommunikation lassen sich Menschen über Emotionen oder Bedürfnisse deeskalieren.
Beratung

Professioneller Umgang mit Anfeindungen, Bedrohungen, Beleidigungen und Aggression

03.09.2023
3/23

Es gibt verschiedene Ansätze für den Umgang mit schwierigen bzw. konfliktiven Situationen zwischen der beratenden Person und einem Klienten bzw. einer Klientin. Klienten, deren Angehörige sowie Mitarbeitende erleben solch angespannte Situationen vielfach als sehr belastend. Es gibt wirksame Möglichkeiten der Deeskalation, um psychische, physische Beeinträchtigungen oder Verletzungen bei betreuten Menschen sowie bei Mitarbeitenden zu vermeiden. Eine davon ist ProDeMa®.

Als gelernter Pflegefachmann im psychosozialen Bereich mit 20 Jahren Erfahrung begegneten mir immer wieder «Aggressionen» in unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen. Nicht selten fühlte ich mich dabei absolut hilflos und verloren und wusste nichts anderes, als Verhaltensanweisungen zu geben wie «Bitte beruhigen Sie sich», «Schreien Sie nicht so laut» usw. oder, wenn die Situation ausweglos schien, Macht und Zwang anzuwenden.

Das nachhallende Gefühl liess mich immer wieder nach alternativen Lösungen suchen. Durch die Ausbildung bei ProDeMa® und die daraus erfolgte Zusammenarbeit durfte ich wirksame und hilfreiche Techniken erlernen, die ich inzwischen mit Erfolg in verschiedensten Bereichen anwenden und vermitteln kann. Heute darf ich mich Lehrtrainer und Kooperationspartner von ProDeMa® nennen. ProDeMa® ist ein urheberrechtlich geschütztes, patentiertes und evaluiertes Deeskalationskonzept, das die Arbeitssicherheit in den Mittelpunkt stellt.

Oft werde ich nach Lösungen für herausfordernde Verhaltensweisen gefragt, in der Hoffnung, dass ich etwas aus dem Ärmel schütteln kann. Doch beim Deeskalieren geht es um Ausnahmesituationen, und diese brauchen individuelle Lösungen, dafür kann ich Prinzipien, Funktionsweisen und Techniken vermitteln, aber keine Patentlösungen.

Aggression – ein facetten- und konnotationsreicher Begriff

Der erste Schritt im Umgang mit Aggression, ist der Begriff als solcher. «Aggression» beinhaltet so viele Facetten und Konnotationen, dass es zuerst gilt, diesen Begriff zu klären. Oft ist «Aggression» mit persönlichen Bewertungsprozessen verflochten, die eine Deeskalation erschweren. In der Fachliteratur sind die meisten Definitionen so aufgebaut: Aggression ist ein zielgerichtetes Verhalten mit Absicht der Schädigung. Mit zielgerichtet bin ich einverstanden, mit Verhalten auch, aber es darf die Frage gestellt werden, ob eine Absicht der Schädigung das zentrale Ziel ist oder ob der Klient nicht eher versucht, ein Problem zu lösen und in innerer Not ist.

Einer der zentralsten Schlüssel, die ich für mich entdecken durfte, war, zu erkennen, dass die Aggression ein «Verhalten» und keine Emotion ist. Umgangssprachlich und in Denkmustern wird das oft zusammengepackt. Hinter jedem menschlichen Verhalten steckt eine Emotion und hinter jeder Emotion ein Bedürfnis. In unserer Gesellschaft lernen wir in der Regel, auf das Verhalten zu reagieren und nicht auf die/das dahinterliegende Emotion/Bedürfnis.

Wenn Menschen sich durch «Aggression» bedroht, beleidigt, gedemütigt fühlen, kann ganz schnell die Empathie schwinden, und dann reagieren wir eher auf das Verhalten, was in der Folge immer die Tendenz für eine symmetrische Eskalation steigert … und da kommt dann eine der zentralen Funktionen der «Aggression» zum Tragen; aggressiv ist immer der oder die andere.

Durch verschiedene Deeskalationsstufen (DS) lassen sich Ursachen erkennen, und mithilfe von Kommunikation lassen sich Menschen über Emotionen oder Bedürfnisse deeskalieren. Bei der DS1 geht es um Strukturen, die Aggressionen auslösen können (z. B. Wartezeiten, Lärm, enge Räume, Betriebsabläufe, Hausordnung, um nur ein paar zu nennen). Durch standardisierte Strukturen werden Menschen viele Vorschriften gemacht, und wenn sie sich nicht daran halten, sind sie «nicht compliant» und haben schon einen «Stempel» auf der Stirn. Oft lassen sich mit einfachen Massnahmen viele Brennpunkte entschärfen und Aggression und Gewalt deutlich reduzieren.

Eigene Bewertungs- und Übertragungsprozesse

Bei der DS2 richtet sich der Fokus auf die eigenen Bewertungs- und Übertragungsprozesse. Wir Menschen haben die Tendenz, «Fehlverhalten» bei uns und bei anderen Menschen anders zu bewerten. Bei uns selbst sehen wir den Auslöser oft als verständliche Reaktion auf eine Situation und bei anderen Menschen eher im Charakter. Dadurch bewerten wir herausfordernde Verhaltensweisen von Patienten und Klienten (der ist halt so …), und aufgrund dieser Bewertung verhalten wir uns.

Manchmal sind das Muster, die auf ganze Teams übertragen werden (z. B. durch sogenannte Psychohygiene), sodass Menschen dann pauschalisiert beurteilt werden. Mit ProDeMa® habe ich eine systemische Herangehensweise entdeckt, die nicht nach Schuld, sondern nach Lösungen sucht.

Beim Deeskalieren kommt eine weitere wichtige Unterscheidung dazu: unsere privaten und professionellen Konfliktmuster. Zu Hause könnten meine Deeskalationstechniken schnell das Gegenteil von dem erzeugen, was ich will und vice versa. Daher üben und trainieren Teilnehmende, wie das Gesagte gehört werden kann. Denn der eskalierende Mensch sagt uns immer, wo der Schuh drückt, was aber ein Verständnis dafür bedingt, was zwischen den Zeilen gesagt wird. Ein weiterer Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass belastende Situationen weniger nachhallen und dadurch quasi auch ein Resilienzmodell beinhalten.

Internale Auslöser

In der DS3 geht es um internale Auslöser aufseiten des Patienten, Klienten oder Bewohners. Das fängt bei basalen Themen wie Hunger und Durst an und geht weiter über emotionale und psychologische Bedürfnisse (Schmerzen, Einsamkeit, Verzweiflung, mangelnde Autonomie usw.). Daher ist das Deeskalieren vergleichbar mit der Spurensuche. Welche versteckten Hinweise gibt mir die Patientin oder der Patient? Geht es eher um äussere Störungen (DS1); ist in der Interaktion etwas schiefgelaufen (DS2); oder habe ich etwas beim Patienten übersehen (DS3)? Bei Fallbesprechungen zeigen sich daher auch diverse Lösungen: Ist die Ursache ein Harnwegsinfekt oder Einsamkeit? Erst wenn solche Themen erkannt werden, können nachhaltige Lösungen entwickelt werden. Spätestens da sollten professionelle Begleiter erkennen, dass nicht der Mensch «aggressiv» ist, sondern er sich höchstens «aggressiv» verhält. Unter professionellen Gesichtspunkten ist «Aggression» als sozial unerwünschter Kommunikationsversuch zu verstehen.  

Bei offensichtlichen Auslösern ist Deeskalation nicht schwer. Anspruchsvoll wird es nur, wenn das emotionale Thema grösser ist; Hilflosigkeit, Angst, Verzweiflung, Frustration usw. Diese emotionalen Auslöser werden nur indirekt kommuniziert. Ich bezeichne sie als «Stolperfallen», da sie in der Kommunikation meistens nicht aufgegriffen werden.  

Da ist die DS4 dann der Schlüssel dazu. Die verbale Deeskalation besteht nebst dem Sicherheitsaspekt aus vier Kommunikationsschritten, die Menschen helfen, die eigenen Ressourcen wiederzuerlangen, und Profis dabei hilft, hinter die Maske der Aggression zu schauen.

Werden diese vier Deeskalationsstufen verstanden und miteinander angewendet, können ganz viele Situationen deeskaliert werden. Über die DS4 (verbale Deeskalation) finde ich heraus, was dem Menschen fehlt, und über DS1 bis DS3 lassen sich in der Regel Lösungsideen finden. Erst wenn diese Elemente miteinander verknüpft werden, funktioniert eine nachhaltige Deeskalation.

Wenn Menschen «einfach nur eine Technik» lernen wollen, muss ich sie verweisen. In meinem Verständnis landen wir dann bei der Manipulation, und das widerspricht meinem moralischen Kompass. Nur wenn wir uns selbst und unser Gegenüber wertschätzen, gelingt eine echte Deeskalation. Ist diese Grundhaltung vorhanden, machen wir in der Regel schon mindestens 50 Prozent richtig.

Die DS5 und DS6 sind Abwehr-, Löse-, Flucht- und Immobilisationstechniken. Sämtliche Techniken sind nach dem Prinzip einfach, sicher und verletzungsfrei aufgebaut und klar von Selbstverteidigung oder Kampfsport losgelöst.

Nachsorge und Nachbetreuung

Nach einem Ereignis ist die DS7, Nachsorge und Nachbetreuung, die letzte der Phasen. Die Nachbetreuung bezieht sich mehr auf die Klientel, und die Nachsorge meint Mitarbeitende und Kollegen. Beide Parteien müssen nach belastenden Ereignissen aufgefangen werden. Das verhindert «ständig wiederkehrende Situationen» und reduziert die Wahrscheinlichkeit von Traumatisierungen.  

Zum Schluss noch ein Tipp: Ein sehr wichtiges Thema, gerade in «helfenden» Berufen ist, zu verstehen, dass eskalierende Menschen (im ersten Moment) keine Lösung wollen. In Situationen mit grosser Anspannung oder Stress verändern sich prozedurale Abläufe im Gehirn, und daher brauchen Menschen in innerer Not zuerst einen Menschen, der ihnen beisteht, und nicht jemand, der ihre Probleme löst oder vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben. Im Alltag jedoch sind wir darauf spezialisiert «immer gleich lösen zu wollen» (wir meinen es gut), was aber in Krisen in vielen Fällen das Gegenteil bewirkt.

Erich Roth
Trainer Deeskalations- und Aggressionsmanagement