«Sozialarbeiter:innen fühlen sich tatsächlich oft zu wenig wertgeschätzt.»

03.09.2022
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Der Aargauer Sozialdienst wird seit einigen Monaten in einer Co-Leitung von Pia Maria Brugger Kalfidis und Loranne Mérillat geführt. Wie das funktioniert, erklären die Juristin und die Ökonomin im Gespräch. Sie berichten, wie sie die nicht enden wollenden Krisen meistern und welche Herausforderungen sie im Asyl- und Sozialbereich anpacken wollen.

ZESO: Sie haben die Leitung des Sozialdienstes vor gut einem halben Jahr in Co-Leitung übernommen. Es ist das erste Jobsharing auf Ebene einer Abteilungsleitung in der kantonalen Verwaltung des Kantons Aargau. Warum haben Sie sich gemeinsam beworben?

Pia Maria Brugger Kalfidis: Der Sozialdienst beinhaltet ein unglaublich breites Spektrum an Aufgaben. Es laufen hier unzählige Fäden zusammen: organisatorisch, fachlich und führungsmässig; auch ist das Amt stets nah am politischen Puls und von den Krisen betroffen. Ich möchte Qualitätsarbeit machen und das bereits Erreichte konsolidieren, das wäre allein nicht möglich gewesen. Damals war es «nur» Corona, aber keine von uns wollte dieses gewichtige Amt alleine stemmen.

Loranne Mérillat: Wir erachten es als ein Privileg, die Sozialpolitik im Kanton Aargau mitgestalten zu dürfen. Daher hat uns die Leitung des Kantonalen Sozialdiensts gereizt. Für mich kam es unter anderem auch wegen meines Familienlebens nicht infrage, mich alleine für das Amt zu bewerben.

Brugger: Bei mir spielte auch mein Alter eine Rolle. Die Intensität und das Arbeitspensum noch weiter zu erhöhen, kam für mich nicht infrage. Wir haben schon vorher lange zusammengearbeitet. Loranne Mérillat war für die öffentliche Sozialhilfe zuständig und ich Leiterin des Asylbereichs. Wir hatten also bereits viele gemeinsame Schnittstellen, und so kamen wir zum Schluss, dass wir uns hervorragend ergänzen.

Mérillat: Deshalb freuen wir uns sehr, dass uns der Regierungsrat die Möglichkeit gegeben hat, das Amt in diesem alternativen Arbeitsmodell zu führen.

Welche Voraussetzungen neben den fachlichen braucht es, damit das Co-Leiten wirklich gut funktioniert?

Mérillat: Wir sind sehr unterschiedlich: wie wir arbeiten, was wir von der Ausbildung her mitbringen und auch persönlich. Aber wir haben die gleichen Werte und vertreten daher in den grundsätzlichen Fragen die gleiche Haltung. Dennoch haben wir manchmal unterschiedliche Auffassungen, wie wir vorgehen sollen, und dann können die Diskussionen auch intensiv werden. Doch wir hören einander zu. Was man sicher mitbringen muss, wenn man in einer Co-Leitung gut funktionieren will, ist eine Offenheit für andere Denk- und Arbeitsweisen. Wir empfinden diese Unterschiede als sehr inspirierend und lernen voneinander.

Gabs schon Schwierigkeiten mit dem Führungsmodell?

Brugger: Im Gegenteil. Es ist extrem schön, so zu arbeiten, weil wir uns austauschen können. Man hat einen Sparringpartner. Und wir achten mit einer sorgfältigen Absprache darauf, dass für unsere Mitarbeiter:innen, Vorgesetzten und Partner wenn immer möglich keine zusätzlichen Hürden durch die Co-Leitung entstehen.

Mérillat: Die vielen positiven Reaktionen auf unsere Wahl zeigen uns, dass eine Co-Leitung ein Bedürfnis für viele Personen darstellt. Deshalb möchten wir natürlich zeigen, dass das Modell funktioniert und auf professionelle Weise umgesetzt werden kann.

Ihr Stellenantritt erfolgte im Krisenmodus. Die Corona-Krise war noch nicht ganz überstanden, schon folgte die Flüchtlingskrise. Wie haben Sie das erlebt beziehungsweise erleben Sie das?

Brugger: Wir sind durch eine sehr herausfordernde Zeit gegangen beziehungsweise sind immer noch mittendrin. Unsere Mitarbeiter:innen des Kantonalen Sozialdiensts legen ein wahnsinnig grosses Engagement an den Tag. Gleich zu Beginn der Krise haben wir einige zentrale Entscheide gefällt. Einerseits bei der Verteilung der Schutzsuchenden auf die Gemeinden und andererseits in Bezug auf die Abgeltung der Wohnkosten direkt an die Gastfamilien, denn sie sind eine grosse Hilfe bei der Unterbringung der Flüchtlinge. Und wir versuchen, die Gemeinden insbesondere durch regelmässige digitale Informationsveranstaltungen gut zu beraten und zu informieren.

Mérillat: Eine der Herausforderungen war, dass wir zuerst rechtliche Grundlagen für den Umgang mit den Schutzsuchenden schaffen mussten. Zudem war und ist es uns wichtig, alle involvierten Akteure miteinzubeziehen, so auch die Hilfsorganisationen, die ja auch direkten Kontakt mit den Geflüchteten haben.

«Wir überlegen, ob wir künftig volljährige unbegleitete minderjährige Asylsuchende stärker in Gastfamilien vermitteln könnten.»

Pia Maria Brugger

Sie sagen, die Gastfamilien sind eine grosse Hilfe bei der Bewältigung der Krise. Werden Sie auch in Zukunft die Zivilbevölkerung in die Unterbringung von Flüchtlingen einbeziehen?

Brugger: Wir überlegen, ob wir künftig volljährige unbegleitete minderjährige Asylsuchende stärker in Gastfamilien vermitteln könnten. Vor allem beim Übertritt ins Erwachsenenalter stellen sich viele Fragen, bei denen wir Gastfamilien gut begleiten könnten. Schon vor dem Krieg in der Ukraine hatten wir überlegt, das Gastfamilienmodell zu aktivieren. Grundsätzlich möchten wir die Zivilbevölkerung noch mehr einbeziehen. Die Solidarität in der Bevölkerung ist immens. Die Ukrainekrise und die direkte Begegnung mit Schutzsuchenden hat die Einstellung der Bevölkerung gegenüber dem Thema Migration verändert. Wir sind überzeugt, dass diese Partizipation sehr wertvoll ist.

Im Kanton Aargau wurde die Regelung der Sozialhilfe in den letzten Jahren häufig besonders kritisch beurteilt und wurden die SKOS-Richtlinien mit einigen Ausnahmen angewandt. Jetzt scheint sich das zu ändern. Der Aargau will die neueste Richtlinienrevision nun übernehmen. Was ist passiert?

Mérillat: Ich denke, dafür gibt es verschiedene Gründe. Einerseits: Als kantonaler Sozialdienst bemühen wir uns, sachliche Grundlagen für die politische Diskussion zu erstellen. Andererseits wird die Sozialhilfe immer komplexer, sodass es oft auch dem Wunsch der Gemeinden entspricht, klare Regelungen zu haben. Einige Ausnahmen werden auch mit der Übernahme der aktuellen SKOS-Richtlinien ab 2023 bestehen bleiben, doch wird es mehr Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit geben. Wichtig für uns und die Akzeptanz der Entwicklungen ist die enge Zusammenarbeit mit den Gemeinden, die für den Vollzug der Sozialhilfe zuständig sind und sehr viel Know-how und Erfahrung einbringen sowie zur Lösungsfindung beitragen.

Wie beurteilen Sie die SKOS?

Mérillat: Über meine Mitgliedschaft in der Kommission Rechtsfragen der SKOS sowie neu auch im SKOS Vorstand – aber auch darüber hinaus – sind wir mit der SKOS in engem Kontakt. Die SKOS-Richtlinien sowie die Erläuterungen und Praxishilfen sind wichtige Hilfsmittel für die Sozialhilfeorgane. Auch im Zusammenhang mit der Corona-Krise waren wir froh, dass wir den Gemeinden nahelegen konnten, die entsprechenden Empfehlungen der SKOS anzuwenden. Die meisten Gemeinden, denke ich, orientieren sich an diesen Empfehlungen. Wir können viel vom Know-how der SKOS profitieren und müssen nicht alle Themen selbst regeln.

Der föderalistisch organisierten Sozialhilfe dennoch einen einheitlichen Rahmen zu geben, ist ein schwieriger Balanceakt. Wie beurteilen Sie das System SKOS, die als unabhängige Instanz für die Sozialhilfe Regeln aufstellt, die für die Kantone nicht verbindlich sind?

Mérillat: Aufgrund der föderalen Ausgestaltung der Sozialhilfe ist das System der Empfehlungen sicher der richtige Weg. Sie geben Leitplanken vor, von denen aber auch abgewichen werden kann, wenn es in einem Kanton als sinnvoll erachtet wird. Auch in den aktuellen Krisen zeigt sich, dass die Kantone und die Gemeinden die Empfehlungen der SKOS als Handlungsvorschlag schätzen.

Bräuchten wir im Asylwesen auch koordinierte Richtlinien für die Kantone?

Brugger: Gerade bei den Flüchtlingen aus der Ukraine hat man ja gesehen, dass es in der Bevölkerung nicht verstanden wird, warum jemand in einem Kanton viel weniger bekommt, als in einem anderen. Es wäre sicher sinnvoll, gewisse Richtlinien zu schaffen. Auch wenn manche Unterschiede gerechtfertigt sind, da es in den Kantonen durchaus unterschiedliche Voraussetzungen und Strukturen gibt.

Viele Sozialdienste klagen über Personalprobleme. Auch Studien haben gezeigt, dass Sozialdienste bei den beliebten Berufsfeldern nicht sehr weit oben liegen. Wie sieht es im Kanton Aargau aus?

Mérillat: Auch für die Aargauer Sozialdienste ist es eine Herausforderung, gut qualifiziertes Personal zu finden. Was wir aus den Gemeinden hören, ist, dass Berufseinsteiger:innen oft nicht lange auf den Sozialdiensten bleiben. Sie wechseln dann offenbar nicht nur in den Sozialdienst einer anderen Gemeinde, sondern teilweise gleich in ein anderes Berufsfeld. Die Gründe dafür sind wohl vielfältig. Einerseits könnte diese Entwicklung in den erforderlichen, kantonsspezifischen Anforderungen liegen, die während der Ausbildung nicht erlernt werden können und dann erst «on the job» dazukommen. Zudem kann ich mir auch vorstellen, dass der Case Load und der politische Druck für die Mitarbeitenden teilweise sehr herausfordernd sind.

Sozialhilfe und Sozialhilfebeziehende erzielen in der öffentlichen Debatte wenig positive Resonanz, eher im Gegenteil. Das überträgt sich vielleicht auch auf diejenigen, die dort arbeiten. Sie erhalten weniger Anerkennung. Das hört man oft.

Brugger: Aus meiner Erfahrung fühlen sich Sozialarbeiter:innen tatsächlich oft zu wenig wertgeschätzt. Die Sozialhilfe ist nach wie vor stigmatisiert. Ich hoffe, dass langsam ein anderes Bewusstsein entsteht, aber das sind langwierige Prozesse.

Mérillat: Wir haben letztes Jahr im Rahmen einer Postulatsbearbeitung bei den Gemeinden eine Umfrage zu Anreizen und Sanktionen gemacht. Dabei ist herausgekommen, dass gemäss den Sozialdiensten ca. 5 Prozent aller Sozialhilfebezüger:innen nicht kooperationsbereit sind. Es spielt aus meiner Optik für die Arbeit der Sozialdienstmitarbeitenden eine grosse Rolle, ob sich die Arbeit auf diese 5 Prozent konzentriert und entsprechend sehr negativ belastet ist, oder ob sich die Mitarbeiter:innen der Sozialdienste insbesondere auf die anderen 95 Prozent fokussieren können und die Arbeit entsprechend positiv wahrgenommen wird. Hinzu kommt, dass die Komplexität und die Qualitätsanforderungen in der Sozialhilfe zunehmen. Um dem gerecht zu werden, fehlen aber oft die personellen Ressourcen. Das ist für Sozialarbeitende dann sehr unbefriedigend.

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft. Welche Themen, Projekte wollen Sie in Angriff nehmen?

Brugger: Im Moment steht die Bewältigung der Ukraine-Krise im Zentrum. Da kommt sicher noch einiges auf uns zu. Noch haben wir genügend Platz in den Unterkünften, aber wir wissen nicht, wie sich die Situation entwickelt. Ferner möchte ich weiter in die Qualität unserer Arbeit investieren. Damit die jungen und engagierten Mitarbeiter:innen gerne bei uns arbeiten.

Mérillat: Das betrifft den ganzen Sozialdienst. Wir möchten unsere Prozesse wo möglich und sinnvoll optimieren und die Digitalisierung vorantreiben. Zudem wollen wir die Partizipation unserer Mitarbeiter:innen sowie auch mit unseren Partnern weiter fördern. Das heisst, dass wir schon innerhalb des Sozialdienstes stärker bereichsübergreifend arbeiten möchten. Im Bereich der Sozialhilfe ist es uns ein Anliegen, dass wir uns qualitativ weiterentwickeln, noch dienstleistungsorientierter werden und so konstruktiv zur Weiterentwicklung der Sozialpolitik im Kanton Aargau beitragen können.

Pia Maria Brugger Kalfidis und Loranne Mérillat

Pia Maria Brugger Kalfidis leitete seit dem 1. Januar 2017 das Asylwesen beim Kantonalen Sozialdienst. Sie war vor ihrer Tätigkeit beim Kanton Aargau fünf Jahre Gemeindeschreiberin/Geschäftsführerin in der Gemeinde Ebikon, Luzern. Davor leitete sie zehn Jahre den Gemeindeverband für den öffentlichen Agglomerationsverkehr Luzern und war für die CVP im Kantonsrat. Sie ist diplomierte Betriebsökonomin HWV/FH, verfügt über einen Executive Master of Business Administration.

Loranne Mérillat leitete seit dem 1. Juli 2018 die Sektion Öffentliche Sozialhilfe des Kantonalen Sozialdiensts. Zuvor war sie während neun Jahren Fachbereichsleiterin Migration im Generalsekretariat der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK). Loranne Mérillat hat ein rechtswissenschaftliches Studium der Universität Freiburg absolviert und im Verfassungsrecht promoviert.