im Gespräch

«Unterschätzt wird nach wie vor die demografische Transformation.»

03.03.2023
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Wir durchleben eine Zeit der Krisen. Viele Entwicklungen machen uns Menschen Angst. Wir haben deshalb mit dem Zukunftsforscher Georges T. Roos gesprochen und ihn gefragt, wie sich die Welt der Arbeit, die Demokratie, die Bevölkerung entwickeln wird. Der Luzerner Zukunftsforscher schaut dabei nicht in eine Glaskugel, sondern vor allem in die grossen Trendverläufe.

ZESO: Herr Roos, Sie sind Zukunftsforscher. Das klingt nach einem sehr interessanten Beruf.

Georges T. Roos: Jeder Mensch antizipiert eigentlich immer. Dass wir uns die Zukunft vorstellen können und uns an die Vergangenheit erinnern, zeichnet uns Menschen aus. Das Gehirn antizipiert laufend, was geschehen wird, zum Beispiel wenn wir Auto fahren und währenddessen an ganz anderes denken. Erst wenn etwas Überraschendes passiert, etwas, das vorher vom Gehirn nicht antizipiert wurde, werden wir plötzlich wach.   

Wir stolpern derzeit von einer Krise in die nächste. Können Sie mich beruhigen und mir versichern, dass es bald wieder bergauf geht? Oder wird es womöglich noch schlimmer werden?

Sowohl als auch. Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass einige Entwicklungen in eine positive Richtung gehen. Aber es gibt auch Gründe, die nahelegen, dass es in anderen Bereichen schlechter gehen wird. Das ist ja eigentlich meistens so. Die Frage ist: Was machen wir damit? Optimisten fokussieren dann aufs Gute und Pessimisten aufs Schlechte und blenden das andere aus. Das ist nicht sehr sinnvoll. Wir müssen uns dafür engagieren, dass die Dinge, die besser werden können, auch wirklich besser werden. Und die negativen Entwicklungen müssen wir als Herausforderung akzeptieren, die wir zu lösen haben. Die Menschheit ist intelligent, kreativ und anpassungsfähig, und sie wird die Probleme lösen können, wenn sie das will.

Sie verfolgen die Transformationen in der Gesellschaft, die Megatrends und ziehen Ihre Schlüsse daraus. Was sind Megatrends?

Wenn wir uns wie jetzt in einer Situation befinden, in der eine Reihe von Krisen aktuell ist, dann ist die Aufmerksamkeit häufig auf diese Krisen konzentriert, und die längerfristigen Entwicklungen werden ausgeblendet. Ein Megatrend ist eine übergeordnete, eine langfristige Entwicklung. Sie wirkt global und wirkt in alle Bereiche hinein, also Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sind betroffen. Megatrends sind der voraussagbare Teil der Zukunft. Die Megatrends werden von allen Instituten, die sich mit Zukunftsforschung befassen, in etwa gleich gesehen. Sie werden, welches Institut Sie auch immer anfragen, dieselben Antworten erhalten – allenfalls mit Nuancen.

Welcher Megatrend ist besonders aktuell und bedeutend?

Global gesehen ist ein wichtiger, aber wenig beachteter Megatrend die wachsende Weltbevölkerung. Ein weiterer globaler Megatrend ist mit Ausnahme von Afrika die alternde Bevölkerung. Die Urbanisierung ist ein Megatrend. Immer mehr Menschen leben in Städten. Ein anderer Megatrend ist, dass wir immer gesünder sind – zumindest, wenn wir es am härtesten Indikator, der Lebenserwartung, messen. Gesundheit ist also ein weiterer Megatrend. Die Digitalisierung ist natürlich ein Megatrend, die künstliche Intelligenz wird einer werden. Auch die Ökologisierung als Folge des Klimawandels ist ein Megatrend. Alles das sind Megatrends, die einen Einfluss haben, wie wir in den nächsten 10 bis 20 Jahren arbeiten und leben werden.

«Wir müssen uns dafür engagieren, dass die Dinge, die besser werden können, auch wirklich besser werden.»

Sie sprechen von 16 Megatrends. Welcher wird unser Leben am meisten beeinflussen?

Ich konzentriere die 16 Megatrends auf fünf grosse Transformationsprozesse: die digitale, die demografische, die geopolitische, die ökologische Transformation und die Biotransformation. Zwei dieser Transformationen sind in der Öffentlichkeit bekannt und werden breit diskutiert: die ökologische und die digitale Transformation. Unterschätzt wird nach wie vor die demografische Transformation. Sie wird grosse Auswirkung auf alle Bereiche haben. Alles, was wir heute tun, hat Folgen in der Zukunft. Damit die richtigen Entscheidungen für die Gestaltung unserer Zukunft getroffen werden können, müssen wir wissen, was geschieht, wenn beispielsweise die Weltbevölkerung wächst, Europa hingegen schrumpfen wird. 

Was sind die Folgen dieser Entwicklung? Was bereits deutlich sichtbar ist, jedenfalls in der Schweiz, ist der Mangel an Arbeits- und Fachkräften als Folge der Alterung der Gesellschaft.

Die Schweiz ist ein nach wie vor wachsendes Land, im vergangenen Jahr wuchs die Bevölkerung um eine Viertelmillion Einwohner, wenn auch nicht alle bleiben werden. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern hat die Schweiz immer noch einen Geburtenüberschuss. Es werden also mehr Menschen geboren als sterben. Das wird sich jedoch in den nächsten Jahren ändern. Wir werden immer älter. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist hier im internationalen Vergleich sehr hoch, und die Forschung geht davon aus, dass in den nächsten 20 Jahren noch fünf Jahre hinzukommen werden. In 20 Jahren wird ein Viertel der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Die Anzahl der 80-Jährigen wird sich verdoppeln. Das Bevölkerungswachstum findet also in den älteren Jahrgängen statt und nur wenig in der Altersgruppe der Erwerbstätigen. Zwei Erwerbstätige sind dann bald einmal für einen Rentner zuständig. Das sind enorme Herausforderungen, nicht nur für die Sicherung der Altersvorsorge. Man muss sich auch fragen, was das mit der Demokratie macht, wenn mehr als die Hälfte der Stimmbevölkerung über 50 oder 60 Jahre alt ist. Wie werden da die Verteilkämpfe bei den Budgetverhandlungen ausgehen?

Sie sagen, wir werden immer älter und offenbar immer gesünder, gleichzeitig scheint sich die psychische Gesundheit zu verschlechtern.

Die psychische Gesundheit in der Gesellschaft scheint diesem Trend nicht zu folgen. Gerade bei jungen Menschen geht der Trend offenbar in Richtung einer Verschlechterung der mentalen Gesundheit. Das macht mir sehr Sorgen. Wenn ich die Zahlen richtig interpretiere, dann ist das kein kurzfristiger Trend, der mit der insbesondere für Kinder und Jugendliche belastenden Corona-Krise zu tun hat, sondern ein Trend, der uns beschäftigen muss.

Die Digitalisierung ist, wie Sie sagen, in aller Munde, und doch wissen wir nicht, wo sie uns wirklich hinführen wird. Wie verändert sich Arbeit in 20 Jahren?

Man spricht von der vierten industriellen Revolution, in der wir stecken. Das heisst, es kommt eine weitere Automatisierung verbunden mit künstlicher Intelligenz und smarter Robotik auf uns zu. Da wird viel passieren. Die Fortschritte auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI) waren in den letzten Jahren enorm. Es wird diesmal aber nicht den zweiten Sektor betreffen, also die handwerklichen oder technischen Tätigkeiten, sondern die geistig anspruchsvollen. Bereits heute ist die KI dem Menschen zum Beispiel beim Interpretieren von Röntgenbildern überlegen. Sie kann – zumindest teilweise – die Arbeit von Juristinnen und Juristen übernehmen, oder die der Controller. Das wird die Welt verändern.

Und was machen wir dann? Braucht es die menschliche Arbeitskraft also bald nicht mehr?

Die pessimistische Perspektive besagt, dass der Mensch sich überflüssig macht. Die optimistischere Sicht ist, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung ohnehin einen Arbeitskräftemangel haben. Zudem entstehen aufgrund technologischer Entwicklungen immer auch neue Tätigkeiten, neue Geschäftsfelder, die auch wieder menschliche, vor allem geistige, empathische und kreative, Arbeit benötigen werden. Schliesslich hat auch bisher jede Industrialisierung zu einer Reduktion der Arbeitszeit geführt und den Arbeitnehmern mehr Freizeit beschert. Es ist gut möglich, dass wir durch diese neue Automatisierungswelle wieder mehr Freizeit gewinnen werden.

Beim Megatrend Digitalisierung macht mir auch die Entwicklung auf den Informationskanälen Sorgen, die Menge an Information und auch, dass man nicht mehr sicher weiss, was wahr oder was eine richtige und wichtige Information ist. Was sehen Sie hier auf uns zukommen?

Hier gibt es auch verschiedene Trends. Einerseits haben wir mehr Transparenz, wir wissen mehr über die Firmen, Organisationen, deren Interessenbindungen usw. Auf der anderen Seite sind wir gläserne Bürgerinnen und Bürger geworden. Die Polarisierung in der Gesellschaft, die über die Social-Media-Kanäle Ausdruck findet, kann man nicht in den Megatrends belegen, aber sie macht auch mir Sorgen. Öffentliche Debatten gehen nicht mehr wie früher via die Medien in klar definierten Foren vonstatten, wo ein Wettbewerb der Ideen stattfinden konnte. Heute zieht man sich in Blasen zurück, und es schwindet das Verständnis, dass man andere Positionen haben kann, ohne deshalb Abschaum zu sein. Es wird deshalb nicht nach Argumenten gegen einen anderen Standpunkt gesucht, sondern man macht mobil gegen politische Feinde, die bekämpft werden sollen. Ich finde das eine gefährliche Tendenz.

Informationskanäle können auch von der KI bespielt werden.

Vor einigen Monaten machte die OpenAi mit ihrer ChatGPT Schlagzeilen. Die ChatGPT ist eine Software, die eine Konversation mit einem Menschen simulieren und auch dieses Interview führen könnte. Hier gilt dasselbe: Wie können wir die neuen Möglichkeiten vorteilhaft nutzen und wie die neuen Risiken minimieren?  

In Japan wird die Pflege alter Menschen teilweise bereits von Robotern übernommen. Wird die KI auch die menschliche Psyche, Emotionen, Empathie umfassen und somit auch Psychologen, Coaches oder Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeiter ersetzen können?

In Japan werden Maschinen ganz anders betrachtet als hier: Sie gelten als beseelt. Das macht es einfach, sie im Alltag zu akzeptieren. Pflegeroboter werden kommen – und ich kann mir vorstellen, dass ich bei gewissen Hilfestellungen, die ich vielleicht im hohen Alter brauchen werde, lieber den Roboter habe als einen Menschen. KI wird Gefühle und Einfühlungsvermögen simulieren können – und das wird uns in bestimmten Situationen vielleicht sogar genügen. Aber das viel Wichtigere ist: Wenn Roboter Care-Personen bei gewissen Tätigkeiten entlasten und sie dafür mehr Zeit für Zuwendung, Zuhören und Anteilnahme haben, hätten wir gewonnen.

Ein zentraler Bestandteil unseres Zusammenlebens ist die Solidarität. Wird sie erhalten bleiben oder doch schwinden, wie manche befürchten?

Man hört viele Stimmen, die sagen, dass wir eine entsolidarisierte Gesellschaft geworden sind. Da halte ich vehement dagegen. Es gibt zwar die Individualisierung. Auch sie ist ein Megatrend, und sie kann in Egoismus und Narzissmus kippen. Aber sie ist nicht per se etwas, das desintegrierend wirkt. Wir haben viele Zeichen der Solidarität in der Covid-Krise gesehen. Plötzlich lebte die Nachbarschaftshilfe wieder auf. Wer hätte das gedacht. Die Solidarität ist heute hingegen anders als in früheren Gesellschaften bürokratisiert, indem wir den Menschen in Not Rechte gegeben haben, die sie gegenüber dem Staat einfordern können. Deshalb sind sie heute nicht mehr auf Almosen angewiesen. Das macht Solidarität anonymer. Aber wenn man das Ausmass an Umverteilung betrachtet, kann man nicht sagen, dass Solidarität nicht stattfindet.

«Es ist wichtig, dass wir uns mit positiven Narrativen über die Zukunft austauschen. »

In der Schweiz werden extrem hohe Löhne bezahlt, der Wohlstand hat ein sehr hohes Niveau erreicht, sodass wir gerne vergessen, dass längst nicht alle daran teilhaben. Wird das so weitergehen oder Armut sich weiter ausweiten?

Wohlstand ist nicht alles, und eine Steigerung des Wohlstands auf extrem hohem Niveau ist schwierig. Stellen Sie sich vor, Sie fangen an zu joggen. Sie müssen ein Aufbauprogramm machen, bis Sie ein ansprechendes Fitnessniveau erreicht haben. Wenn Sie dann noch schneller oder länger joggen wollen, müssen Sie sich überproportional anstrengen. In der Schweiz ist der Lebensstandard so hoch, dass es schwierig sein dürfte, ihn weiter zu erhöhen. Ich denke, es ist auch eine Chance, wieder bescheidener leben zu können. Ob die Armut hierzulande zunehmen wird, hängt von vielen Faktoren ab. Das lässt sich nicht voraussagen.

Warum wird man Zukunftsforscher?

Ich bin Zukunftsforscher geworden, weil wir ja immer Entscheidungen treffen, kleine oder grössere, privat, politisch oder wirtschaftlich, die unsere Zukunft betreffen. Ich finde es wichtig, dass wir sie auf der Grundlage der Kenntnis über die allgemeinen Trends fällen können.

Ist es für Sie frustrierend, wenn die von Ihnen beschriebenen Megatrends keine Konsequenzen haben?

Ich sehe es nicht als Aufgabe eines Experten, zu sagen, wie die Zukunft sein soll. Jedenfalls wenn ich beruflich auftrete, sozusagen der professionelle Georges Roos bin, dann bin ich Experte und bleibe deskriptiv. Manche Leute sind froh, wenn sie sich für diese langfristigen Perspektiven öffnen können. Im Alltag sind doch die meisten den vielen Negativschlagzeilen ausgesetzt und beschäftigen sich mehrheitlich mit den akuten Problemen.

Will ein Zukunftsforscher nicht auch warnen vor gefährlichen Entwicklungen?

Ich bin kein Supporter der apokalyptischen Bilder, die im Moment dem Zeitgeist entsprechen. Ich finde diese hemmend und nicht zielführend, weil sie nicht motivieren, etwas zu gestalten, sondern Angst auslösen, die eher blockierend wirkt. Es ist wichtig, dass wir uns mit positiven Narrativen über die Zukunft austauschen. Wenn man die Leute fragt, ob sie Massnahmen gegen den Klimawandel wollen, sagen sie mehrheitlich Ja. Fragt man sie, ob sie für eine Flugsteuer wären, sagen sie Nein. Das Narrativ der Massnahmen gegen die Klimaerwärmung ist Verzicht, also negativ. Wenn das Bild der Zukunft Verzicht ist, dann sind die Leute eher pessimistisch gestimmt.

Was wäre beispielsweise ein positives Narrativ für eine klimaverträgliche Welt?

Ich bin sehr interessiert, mit anderen zusammen an einem positiven Narrativ zu arbeiten. Ein paar Elemente würde ich einbringen: Die Vision, dass wir in absehbarer Zeit alle Energie aus erneuerbaren Energien erzeugen, ist per se ein unglaublich positives Zukunftsbild. Jedem ist doch klar, dass man die Zukunft nicht auf einer endlichen Ressource aufbauen kann. Selbst ohne Klimawandel sind erneuerbare Energiequellen eine erstrebenswerte Zukunft. Und ich würde schauen, dass mehr über die vielen Hundert Ansätze in Forschung und Industrie gesprochen wird, die zunehmend die fehlenden Puzzleteile – zum Beispiel Stromspeicherung – entwickeln. Der menschliche Erfindergeist ist bewundernswert.

Ist es nicht seltsam, dass wir Menschen trotz unserem Wissen über drohende Gefahren wie beispielsweise die Klimaerwärmung meist nicht wirklich angemessen reagieren?

Ja, der Wandel macht vielen Menschen Angst. Sie bauen Widerstand auf, um sich nicht wandeln zu müssen. Oft solange, bis es wehtut. Aber der Mensch ist in der Lage, sich zu verändern. Der Mensch ist ein sehr anpassungsfähiges Wesen. Es gibt Menschen, die leben im ewigen Eis, andere in der Wüste, wieder andere auf Flüssen oder in Bäumen. Wir können es! Und wenn der Wandel passiert, dann entstehen meist wieder Energie, Freude und Leidenschaft … Man muss nur aus der Trägheit herauskommen. Immer wieder bringt der menschliche Unternehmungsgeist Fortschrittssprünge hervor – in der Vergangenheit, in der Gegenwart und sicher auch in der Zukunft.