Eine Umfrage zeigt eine grosse Bandbreite an Verhalten, wie mit der BVG-Rente von Sozialhilfebeziehenden umgegangen wird. Knapp die Hälfte der befragten Gemeinden verlangt einen BVG-Vorbezug.
Forschung

Vorbezug von Freizügigkeitsguthaben ist weitverbreitet

05.06.2023
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Die Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz vergleicht in einem laufenden Forschungsprojekt die Erbringung von Sozialhilfeleistungen in den Kantonen Aargau, Schaffhausen, St. Gallen, Thurgau und Zürich. Dazu wurden zwei fiktive Fälle ausgearbeitet und in 31 Sozialdiensten besprochen. Die Ergebnisse weisen unter anderem auf grosse Unterschiede hinsichtlich eines BVG-Vorbezugs in und zwischen den Kantonen hin.

In Interviews wurde im Rahmen des Forschungsprojekts der Umgang mit dem Freizügigkeitsguthaben anhand zweier fiktiver Fälle diskutiert. Nebst den fiktiven Fällen wurden mittels eines Kurzfragebogens die wichtigsten Kennzahlen zur materiellen Hilfe in allen Sozialdiensten der fünf Kantone erfragt. In diesem Kurzfragebogen, den 190 Sozialdienste ausgefüllt haben, wurde unter anderem die Frage gestellt, ob ein BVG-Vorbezug vor 63 Jahren verlangt wird. Die entsprechende Frage im Fragebogen lautete folgendermassen: «Wenn ein BVG-Vorbezug zeitlich vor dem AHV-Vorbezug möglich ist, wird ein solcher Vorbezug verlangt?» Knapp die Hälfte (48,2%) der befragten Gemeinden gab an, einen BVG-Vorbezug zu verlangen.

Gemeinsam mit der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) wurden zwei Vignetten ausgearbeitet. Ziel der Fallbeschriebe war es, typische Fallkonstellationen zu schildern. Die Fälle sollten an die Praxis der Sozialdienste anschlussfähig und routiniert bearbeitbar sein. Im Kasten sind Angaben der Vignette Riesen dargestellt, die für den Vorbezug des Freizügigkeitsvermögens in der Sozialhilfe relevant waren.

Der Fall Lukas Riesen

Lukas Riesen ist 58-jährig. Er verlor vor vier Jahren seine Anstellung als Aussendienstmitarbeiter bei einer Versicherung, in der er 20 Jahre gearbeitet hatte. Er suchte seither erfolglos eine Stelle und wurde in der Zwischenzeit ausgesteuert. Nachdem seine Ersparnisse aufgebraucht waren, musste er sich beim Sozialdienst anmelden. (…) Auf seinem Freizügigkeitskonto befindet sich ein BVG-Guthaben von 300 000 Franken.

In den Interviews wurde ausgehend von diesem Fallbeispiel thematisiert, ob der Klient angehalten werden würde, das Freizügigkeitsguthaben vorzubeziehen, wann ein Vorbezug verlangt werden würde und ob aus dem BVG-Vermögen rechtmässig bezogene Sozialhilfe rückerstattet werden müsste. Gemäss den SKOS-Richtlinien wird empfohlen, dass der Bezug des Freizügigkeitsvermögens erst zusammen mit dem AHV-Vorbezug mit 63 Jahren erfolgen soll. Im SKOS-Monitoring 2021 geben dementsprechend auch 18 Kantone an, dass die Sozialdienste vor der Frühpensionierung mit 63 keinen BVG-Vorbezug verlangen. Gemäss dem Monitoring sehen sechs Kantone je nach Situation die Möglichkeit gegeben, einen Vorbezug zu verlangen. In den Interviews zeigte sich, dass Sozialdienste aus allen fünf untersuchten Kantonen angeben, dass Lukas Riesen das BVG-Vermögen mit 60 oder noch früher beziehen müsste. Nachfolgend wird der Umgang mit dem BVG-Vermögen in den einzelnen Kantonen skizziert.

Thurgau: Der BVG-Vorbezug als Standard

In allen fünf untersuchten Thurgauer Sozialdiensten müsste Lukas Riesen das BVG-Vermögen mit 60 vorbeziehen. Der Kanton Thurgau verweist in den Leitsätzen zur Rechtsprechung in der Sozialhilfe auf Paragraf 8 des kantonalen Sozialhilfegesetzes (SHG) und erachtet mit Verweis auf die Subsidiarität den Vorbezug von Vorsorgegeldern als zumutbar und zulässig. Darauf nehmen Sozialarbeitende in den Interviews Bezug und sehen keine Möglichkeit für den Klienten, das Vermögen nicht vorzubeziehen.

Uneinigkeit besteht bezüglich der Verwendung des BVG-Vermögens. Zwei Gemeinden fordern keine Rückerstattung, da nach ihrer Auffassung das BVG-Vermögen nur für den Lebensunterhalt verwendet werden darf. In einer dritten Gemeinde werden mit den Klientinnen und Klienten freiwillige Rückzahlungen thematisiert, wobei davon ausgegangen wird, dass eine Verpflichtung zur Rückerstattung rechtlich nicht zulässig wäre. In zwei Sozialdiensten würde der Klient angehalten werden, bezogene Sozialhilfe rückzuerstatten. In einem dieser Sozialdienste würde anhand des erweiterten SKOS-Budgets berechnet werden, wie viel Geld der Klient bis zur Frühpensionierung benötigt. Der errechnete Überschuss könnte zur Gänze für die Rückerstattung verwendet werden, wobei dieser Betrag bereits mit 60 fällig würde. Im anderen Sozialdienst müsste die Sozialhilfe durch einen monatlichen ausgehandelten Fixbetrag rückerstattet werden. Nach zwei bis drei Jahren würde es allenfalls zu einem Schulderlass kommen. In der quantitativen Erhebung gaben 14 (77,8%) von 18 befragten Sozialdiensten im Kanton Thurgau an, nach Möglichkeit einen BVG-Vorbezug vor 63 zu veranlassen.

Zürich: Der BVG-Vorbezug als Ausnahme

Im Kanton Zürich würde nur einer der sechs befragten Sozialdienste Lukas Riesen mit 60 das BVG-Vermögen vorbeziehen lassen, dieses jedoch nicht für Rückerstattungen verwenden. Die anderen fünf befragten Sozialdienste sehen von einem Vorbezug vor 63 Jahren ab. Ein Sozialdienst veranlasst die Klientinnen und Klienten auch nicht zu einer frühzeitigen Pensionierung mit 63. Riesen könnte hier auch erst mit 65 in Pension gehen. Die quantitative Erhebung bestätigte, dass der BVG-Vorbezug im Kanton Zürich kaum verbreitet ist. So geben 16 (23,5%) von 68 befragten Sozialdiensten an, einen BVG-Vorbezug vor der AHV-Frühpensionierung zu verlangen.

St. Gallen: Wesentliche Unterschiede und ein wegweisendes Urteil

Im Kanton St. Gallen würden vier der sieben befragten Sozialdienste keinen Vorbezug mit 60 verlangen. In einer Gemeinde war es bis vor einigen Jahren noch üblich, die BVG-Gelder mit 60 vorbeziehen zu lassen. Der Leiter des Sozialdienstes präzisierte dies im Interview wie folgt: «Meine Vorgängerin hatte da eine andere Meinung, sie hätte das Geld vorbeziehen lassen; es gibt auch sonst im Kanton viele Gemeinden, die denken da anders.» Dies zeigt exemplarisch, wie personenabhängig Leistungen der Sozialhilfe, auch bezüglich des BVG-Vorbezuges, sein können. Lukas Riesen müsste in drei der sieben befragten Sozialdienste das BVG-Geld mit 60 oder sogar früher vorbeziehen, jedoch würde es nicht für die Rückerstattung von Sozialhilfe verwendet. In einer Gemeinde würde Lukas Riesen, da er schon 58-jährig ist, die BVG-Gelder an den Sozialdienst abtreten müssen, was in der ganzen Schweiz gestützt auf die Verordnung über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge verboten ist (Art. 17 FZV). Die Sozialarbeiterin ging davon aus, dass der BVG-Vorbezug mit spätestens 59 möglich ist. Dementsprechend würde Lukas Riesen nur überbrückend unterstützt und müsste sämtliche finanziellen Aufwendungen (exklusive Krankenkassenprämien) zurückzahlen.

In einer weiteren Gemeinde würde Riesens Antrag auf Sozialhilfe gar abgelehnt, da er über ein BVG-Guthaben verfügt, über das er bereits ab 58 verfügen kann. Ein kleiner Sozialdienst gibt an, keine Erfahrung mit dem BVG-Vorbezug zu haben, verweist aber auf das Urteil des Verwaltungsgerichts St. Gallen vom 13. Dezember 2022, das zum Zeitpunkt des Interviews bereits rechtskräftig war. In ihm wird festgehalten, dass eine Verpflichtung zum Vorbezug des BVG-Guthabens den bundesrechtlichen Vorsorgeschutz verletzt und im konkreten Fall unverhältnismässig in die Altersvorsorge eingreift. Es ist offen, inwiefern die einzelnen Sozialdienste ausgehend von diesem Urteil ihre Praxis anpassen. Die quantitative Erhebung verdeutlicht, dass viele Sozialdienste in St. Gallen ihre Vorgehensweise anpassen müssten. So geben 26 (83,9%) von 31 Sozialdiensten an, einen BVG-Vorbezug zu verlangen.

Aargau: BVG-Vorbezug und ein Beschluss des Regierungsrates

Im Kanton Aargau verlangen zwei der sieben befragten Sozialdienste einen vorzeitigen Bezug der BVG-Gelder. Wobei einer der beiden Sozialdienste angibt, keine Erfahrung mit dem BVG-Vorbezug zu haben. Die Sozialarbeiterin geht aber davon aus, dass die Sozialbehörde einen Vorbezug mit 60 verlangen würde. Sozialarbeitende aus zwei befragten Sozialdiensten weisen darauf hin, dass BVG-Gelder in anderen Aargauer Gemeinden vorbezogen werden können bzw. müssen und dies letztlich abhängig sei von politischen Ansichten einzelner Akteure in der Sozialbehörde. Eine Gemeinde würde mit dem Klienten absprechen, ob er das BVG-Vermögen für seine Frühpensionierung mit 63 verwenden möchte. Dann würde kein Vorbezug verlangt. Beim Entscheid Riesens für einen Vorbezug würde er von der Sozialhilfe abgelöst und Rückzahlungsforderungen würden geprüft werden. Gemäss Beschluss des Regierungsrates sind ab dem 1. Januar 2023 Rückerstattungsforderungen aus der gebundenen Vorsorge im Kanton Aargau verboten, was diese Praxis untersagen würde. In der Fragebogenerhebung gaben 31 (46,3%) der 67 befragten Sozialdienste des Kantons an, einen BVG-Vorbezug zu verlangen.

Schaffhausen: Unsicherheit im Umgang mit dem BVG-Vermögen

Im Kanton Schaffhausen besteht bezüglich des BVG-Vorbezugs in vier der sechs befragten Gemeinden Unsicherheit, da diesbezügliche Erfahrungen fehlen. Während eine der Gemeinden das BVG-Guthaben eher nicht vorbeziehen würde, ist es für eine andere Gemeinde klar, dass ein Vorbezug mit 60 geprüft werden würde. In der vierten Gemeinde mit fehlender Erfahrung im BVG-Vorbezug fand sich eine weitere Vorgehensweise. Wenn das Geld noch bei einer Pensionskasse oder in einer Freizügigkeitspolice angelegt ist, würde hier die voraussichtliche Altersrente bei einer Frühpensionierung mit 58 oder 59 berechnet und mit Riesen thematisiert werden. Wäre nur der Kapitalbezug möglich, dann würde von einem Vorbezug abgesehen werden. Im grössten befragten Sozialdienst würde die befragte Sozialarbeiterin keinen Vorbezug verlangen, und sie glaubt, dass auch die anderen Sozialarbeitenden im Dienst dies so handhaben würden. Eine weitere Gemeinde würde je nach Fallverlauf auf die ­Altersvorsorge zugreifen. Wenn die Sozial­arbeiterin keine Bemühungen seitens des Klienten zur positiven Veränderung seiner Lage erkennen könnte, würde sie bereits ab 59 oder 60 den Vorbezug veranlassen. In Schaffhausen nahmen lediglich sechs Gemeinden an der Fragebogenerhebung teil. Angesichts der geringen Erfahrung vieler kleiner Sozialdienste mit der Thematik sind die Angaben in der Fragebogenerhebung jedoch kaum interpretierbar.

Fazit

Die Ergebnisse der Vignettenstudie zeigen, dass in den fünf befragten Kantonen eine grosse Bandbreite an Herangehensweisen besteht, wie mit dem Freizügigkeitsvermögen des Klienten umgegangen wird. Je nachdem, in welcher Gemeinde Riesen einen Antrag auf Sozialhilfe stellt, wird er für das Alter mehr oder weniger Geld zur Verfügung haben. Während einige seinen Antrag von Beginn an ablehnen, kann er in einer anderen Gemeinde sein für das Alter angesparte Vermögen bis 65 unangetastet lassen. Diese Praxis führt zu einer Kostenverlagerung von der Sozialhilfe hin zu den Ergänzungsleistungen und zu einer Ungleichbehandlung des Klienten.

Dr. Christophe Roulin, Dr. Benedikt Hassler
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW


SKOS-Merkblatt BVG-Vorbezug

Die SKOS-Richtlinien sagen klar, dass die Auszahlung der Freizügigkeitsleistungen erst im Zeitpunkt des AHV-Vorbezugs oder einer IV-Rente verlangt werden kann, und sie sagen auch, dass bei Auszahlung der Freizügigkeitsleistungen keine Rückerstattung verlangt werden soll. Im neuen SKOS-Merkblatt werden neben den aktuellen SKOS-Richtlinien die neuesten Rechtsprechungen des Bundesgerichts und des Verwaltungsgerichts St. Gallen ausgewertet und wird das Fazit gezogen, dass weder die Auszahlung der Freizügigkeitsleistungen vor dem Eintritt des Versicherungsfalls noch die Rückerstattung zulässig ist. Bei Freizügigkeitsguthaben kollidieren die Prinzipien des Vorsorgeschutzes mit der Subsidiarität der Sozialhilfe. Bei nicht ausbezahlten Freizügigkeitsguthaben geht der Vorsorgeschutz grundsätzlich bis zum Eintritt des Versicherungsfalls (AHV-Vorbezugsalter oder ganze IV-Rente) vor. Bis zum vollendeten 63. Altersjahr bei Männern und bis zum vollendeten 62. Altersjahr bei Frauen oder bis zum Bezug einer ganzen IV-Rente kann der Vorbezug des Freizügigkeitsguthabens deshalb nicht verlangt werden.

Die Ablösung von der Sozialhilfe ist zulässig, wenn sich eine unterstützte Person das Freizügigkeitsguthaben vor Eintritt des Versicherungsfalls (AHV-Vorbezugsalter oder ganze IV-Rente) freiwillig und ohne Aufforderung der Sozialhilfebehörde ausbezahlen lässt. In diesem Fall besteht kein Schutz der Altersvorsorge mehr. Ebenso ist die Rückerstattung gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung möglich, wenn sich eine unterstützte Person das Freizügigkeitsguthaben vor Eintritt des Versicherungsfalls (AHV-Vorbezugsalter oder ganze IV-Rente) ausbezahlen lässt. In einem allfälligen Pfändungsverfahren ist der beschränkten Pfändbarkeit Rechnung zu tragen.

Zum Schutz der Alters- bzw. Invalidenvorsorge ist gemäss SKOS-Richtlinien dagegen auf die Rückerstattung zu verzichten. Die Rückerstattung ist auch bei Auszahlung des Freizügigkeitsguthabens im Zeitpunkt des AHV-Vorbezugsalters oder des Bezugs einer ganzen IV-Rente nicht angebracht, da der Vorsorgefall Alter bzw. Invalidität eingetreten ist.

Anja Loosli Brendebach, Leitung Recht und Beratung

Die Studie

Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Sozialhilfe zu erheben, wurden im Forschungsprojekt 31 Sozialdienste in den fünf Kantonen Aargau, Schaffhausen, St. Gallen, Thurgau und Zürich befragt. Hierfür wurden den Fachkräften zwei fiktive Fallbeschreibungen (Vignetten) zur Bearbeitung vorgelegt. Im Rahmen von persönlichen Interviews wurden die Fachkräfte gebeten, für die beiden Fälle ein Sozialhilfebudget zu erstellen und die persönliche Hilfe zu planen. Die Interviews wurden zwischen Juni 2022 und März 2023 geführt und dauerten ca. 90 Minuten. Gefördert wird das Projekt durch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, die Ernst Göhner Stiftung sowie AvenirSocial.