Praxisbeispiel

Wer zahlt, wenn Durchreisende die Schweiz nicht mehr verlassen?

03.06.2024
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Wenn Durchreisende ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz bleiben wollen und finanzielle Unterstützung benötigen, muss der Sozialdienst Rückkehrhilfe oder Nothilfe anbieten und übernehmen. Der Sozialdienst informiert das Migrationsamt über die Auszahlung der Sozialleistungen, Letzteres muss die Rückkehr organisieren.

Amar Aabibi* aus Algerien ist vor einiger Zeit in die Schweiz eingereist, um Freunde zu besuchen. Er hat bisher keinen Antrag auf eine Aufenthaltsbewilligung eingereicht. Er wohnt nach wie vor bei seinen Freunden in Siders, ist auf Arbeitssuche und möchte gerne in der Schweiz bleiben. Er hat mittlerweile seine Vermögenswerte aufgebraucht und verfügt über keine Einkünfte mehr. Da er sein Existenzminimum nicht mehr decken kann, wendet er sich folglich an die Sozialbehörden der Gemeinde Siders, in der er aktuell lebt

Frage:

Was muss der Sozialdienst Siders in diesem Fall unternehmen?

Grundlagen:

Amar Aabibi darf sich nicht in der Schweiz aufhalten, da kein entsprechender Antrag beim Migrationsamt eingereicht wurde. Er hat daher weder Anspruch auf einen zivilrechtlichen noch auf einen Unterstützungswohnsitz: Aabibi möchte in der Schweiz leben, aber das Niederlassungsvorhaben nach Art. 4 ZUG kann nicht realisiert werden.

Da Aabibi keinen Wohnsitz begründet hat, muss nach Art. 21 ZUG der Aufenthaltskanton seinen Antrag auf Sozialhilfe prüfen. Der Kanton (in diesem Fall der Kanton Wallis) muss zudem für die Rückkehr der betreffenden Person in ihr Wohn- oder Heimatland sorgen, sofern kein ärztlicher Vorbehalt besteht. Falls eine Rückreise möglich ist, muss die zuständige Sozialbehörde eine Rückkehrhilfe leisten, die sich gemäss der SKOS-Richtlinie A.5 auf die Transport- und Verpflegungskosten beschränken sollte.

Nach den gleichen SKOS-Richtlinien hat die Person, solange eine Rückreise nicht möglich und nicht zumutbar ist, Anrecht auf eine Nothilfe, die folgende Bereiche deckt:

  • Verpflegung,
  • Unterkunft,
  • Kleidung,
  • medizinische Grundversorgung.

Amar Aabibi möchte aktuell nicht in sein Heimat- bzw. in sein Herkunftsland zurückkehren, sondern weiterhin bei seinen Freunden leben. Der Sozialdienst ist nach Art. 12 BV verpflichtet, jeder auf ihrem Territorium lebenden Person Hilfe in Notlagen zu gewähren. Diese ist vergleichbar mit der Hilfeleistung, solange eine Rückkehr nicht möglich ist. Es handelt sich dabei um ein unantastbares Grundrecht. Selbst wenn die Person einen alternativen Lösungsvorschlag wie die Rückkehrhilfe abgelehnt hat, muss Nothilfe gewährt werden. Gemäss BGE 131 I 166, E. 4.4, muss das verfassungsmässige Recht jeder Person auf die Sicherung eines Existenzminimums, unabhängig von seinem Status, berücksichtigt werden. So darf die Nothilfe nicht zeitlich begrenzt sein oder an die Bedingung geknüpft werden, dass der Antragstellende die Rückkehr in sein Land vorbereitet. Die Hilfe muss unabhängig vom Status der betroffenen Person gewährt werden, einzig die Notwendigkeit ihrer Beanspruchung darf beurteilt werden. Die Hilfe kann jedoch auch in Form von Naturalien gewährt werden, etwa durch die Abgabe von Nahrungsmitteln und Kleidern oder durch ein Wohnangebot, auch in einer Gruppenunterkunft.

Antwort:

Aabibi ist als Durchreisender ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz migrationsrechtlich noch nicht gemeldet. Sein Entscheid, in der Schweiz zu verbleiben, kann neben den Auswirkungen in migrationsrechtlicher Hinsicht auch Auswirkungen im Bereich der Sozialhilfe haben. Sofern die finanziellen Mittel von Aabibi aufgebraucht sind, kann er sich an die Sozialbehörde der Gemeinde Siders wenden. Der Sozialdienst Siders hat Amar Aabibi eine Nothilfe anzubieten oder die Rückkehrhilfe zu übernehmen. Die Nothilfe ist unabhängig von seinem migrationsrechtlichen Status zu gewähren und umfasst Verpflegung und Kleidung - auch in Form von Naturalien – sowie Unterkunft und medizinische Grundversorgung. Der Kanton Wallis hat für die Rückkehr der betreffenden Person in ihr Wohn- oder Heimatland zu sorgen, sofern kein ärztlicher Vorbehalt besteht. Die vom Sozialdienst Siders zu leistende Rückkehrhilfe beschränkt sich auf die Transport- und Verpflegungskosten. Der Sozialdienst muss zudem eine Meldung an das Migrationsamt machen, dass für Aabibi Sozialleistungen ausbezahlt werden. Das Migrationsamt kann nun die migrationsrechtlichen Fragen klären und eine Rückkehr prüfen und organisieren.

Roland Favre
Mitglied Kommission Richtlinien und Praxis

Praxis

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen beantwortet und publiziert, die der SKOS im Rahmen ihrer Beratungsangebote gestellt werden.

Weitere Informationen unter skos.ch → Beratung für Institutionen.