Eine angeschlagene psychische Gesundheit kann zu prekären Lebensumständen führen, doch Tatsache ist auch, dass sich
Prekarität auf das psychische Gleichgewicht auswirkt.
Forschung

Prekarität: ein Risikofaktor für die mentale Gesundheit 

04.03.2024
1/24

Die traditionelle Herbsttagung der Artias befasste sich 2023 mit dem Thema psychische Gesundheit und Prekarität. Die Tagung bot Gelegenheit, darüber nachzudenken, was diese beiden Begriffe miteinander zu tun haben, aber auch, was sie uns über unsere Gesellschaft verraten.

Psychische Gesundheit ist ein hochaktuelles Thema, das Politiker, Fachleute, Journalisten und die breite Öffentlichkeit beschäftigt, seit es durch die Covid-19-Pandemie wieder in den Vordergrund gerückt ist. Es wird beobachtet, dass die psychische Belastung in den letzten Jahren zugenommen hat, insbesondere auch bei jungen Menschen, und dies gibt zu Recht Anlass zur Sorge. Die Virulenz des Themas zeigte sich auch bei der bis auf den letzten Platz gefüllten Artias-Tagung.

Prekarität und psychische Gesundheit beeinflussen sich gegenseitig

Es wäre jedoch falsch, die Frage der Verschlechterung der psychischen Gesundheit auf ihre «aktuelle» Dimension zu reduzieren. Die Gesundheitssoziologin Claudine Burton-Jeangros erinnerte in ihrem Referat daran, dass Prekarität in den 1980er-Jahren in unseren westlichen Gesellschaften ein Comeback erlebte, nachdem sie in den Wirtschaftswunderzeiten (1945-75)  weitgehend in den Hintergrund getreten war. Die Soziologin definiert Prekarität als «Raum sozialer und ökonomischer Fragilität und Verwundbarkeit», der durch ein «unsicheres Verhältnis zur Zukunft» gekennzeichnet ist. So sind eine Reihe neuer sozialer Risiken entstanden, die mit der Arbeitswelt, neuen Familienformen oder auch der Wohnsituation zusammenhängen. Die Menschen, die mit diesen neuen Schwierigkeiten konfrontiert sind, bewältigen sie je nach ihren Ressourcen. Hier kommt der «soziale Gradient der psychischen Gesundheit» ins Spiel, denn je nach sozialem Status sind nicht alle Menschen in gleicher Weise von diesen Entwicklungen in ihrer psychischen Gesundheit betroffen. Depressive Symptome hängen beispielsweise ebenso vom Bildungsniveau ab wie das Gefühl von Entmutigung.

Dr. Stéphane Morandi, leitender Arzt in der Abteilung für Gemeindepsychiatrie des Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) beobachtet in seiner Praxiserfahrung ebenfalls, wie wichtig die Verbindung – eine wechselseitige Verbindung – zwischen sozialen Problemen und psychischer Gesundheit ist. Die psychische Gesundheit hat zwar eine biologische und medizinische Dimension, hängt aber auch stark vom Umfeld ab, in dem sich der Einzelne bewegt (Arbeit, Familienleben, politischer Kontext). Ein Migrationshintergrund oder die Erfahrung von Arbeitslosigkeit haben beispielsweise einen Einfluss auf die psychische Gesundheit. Andersherum kann sich eine geschwächte psychische Gesundheit oder das Leiden an psychischen Störungen auf sozialer Ebene auswirken: «Wenn man depressiv ist, fühlt man sich viel müder, man hat viel weniger Lust, man hat viel weniger Energie, man hat Schwierigkeiten, aus dem Haus zu gehen, seine Freunde und Familie zu treffen; und schliesslich kann die Depression zur Isolation führen.» In anderen Fällen können die Folgen auch der Verlust des Arbeitsplatzes oder der Wohnung, Überschuldung usw. sein.

Zusammenarbeit: Stimmen aus der Praxis

Artias wollte mit der Tagung einen Beitrag zum Dialog zwischen Gesundheits- und Sozialwesen leisten. Aus diesem Grund wurde am Nachmittag das Mikrofon an Fachleute aus der Praxis übergeben, um einen Blick aus der Praxis auf die Herausforderungen der Interprofessionalität zu erhalten.

In der Sozialabteilung des Centre Médico-Social Sion-Hérens Conthey, in der die Eingliederungssozialarbeiterin Morgane Perruchoud angestellt ist, sind 20 bis 30 Prozent der Leistungsempfänger in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt. Bei einigen wird die Krankheit diagnostiziert, und sie erhalten eine psychotherapeutische Betreuung. Andere, die nicht medizinisch betreut werden, verhalten sich möglicherweise auf eine Art, dass von der Existenz einer zugrunde liegenden psychischen Störung ausgegangen werden kann. Gegenüber dieser letzten Gruppe sind die Sozialarbeitenden am hilflosesten. Die systemischen und persönlichen Herausforderungen sind zahlreich: Wie geht man mit eskalierenden Situationen an der Rezeption des Dienstes um? Soll man bei Verdacht auf eine psychische Störung den Leistungsempfänger zur Teilnahme an einer Eingliederungsmassnahme verpflichten, auch wenn er kein ärztliches Attest vorweisen kann? Sind Sanktionen in solchen Situationen sinnvoll? Für Morgane Perruchoud sind die Ressourcen zwar vorhanden (Intervisionen, Supervisionen, interprofessionelles Netzwerk usw.), aber die Sozialdienste sind gut beraten, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser auszurüsten, indem sie ihnen Ausbildungen im Bereich der psychiatrischen Intervention anbieten.

Melanie Piñon, Pflegekoordinatorin für Notunterkünfte im Universitätsspital Genf (HUG) und wissenschaftliche Adjunktin an der Hochschule für Gesundheit in Genf, stellte die gemeindenahe Gesundheitsschwesterberatung für Obdachlose in Genf vor. Dieses Projekt richtet sich an Personen, die mehrheitlich unter psychischen Störungen leiden und deren Aufnahme in den Notunterkünften sehr kompliziert ist. Um sie zu begleiten, arbeiteten die Fachkräfte der Beratungsstelle an der Zusammenarbeit zwischen Gesundheit und Sozialem: «Indem wir unsere Hüte Gesundheit oder Soziales ablegen und gemeinsam an der Situation arbeiten und gemeinsame Ziele stecken, mobilisieren wir eine kollektive Intelligenz, um Probleme zu lösen und Menschen zu begleiten», erklärte Mélanie Piñon. Ein zentraler Aspekt ist die Berücksichtigung und Bewertung des psychosozialen Leidens der betroffenen Menschen. Mit anderen Worten: Es werden nicht nur gesundheitliche Elemente berücksichtigt, sondern die Situation in ihrer Gesamtheit. So kann mit jedem Einzelnen ein soziosanitäres Projekt aufgebaut werden.

Die Soziale Arbeit im Bereich der psychischen Gesundheit ist von zahlreichen Fragen und Herausforderungen geprägt. Sabine Corzani, Leiterin des Sozialdienstes und der Angehörigenhilfe des Freiburger Netzwerks für psychische Gesundheit (FNPG), wies insbesondere darauf hin, dass bei psychischer Gesundheit die Gefahr einer Abwärtsspirale besteht und es wichtig ist, präventiv sowohl die sozialen als auch die gesundheitlichen Herausforderungen zu beachten und anzugehen. Eine weitere Problematik ist die Stigmatisierung psychischer Störungen, die auf Vorurteilen gegenüber den Betroffenen, aber auch gegenüber den Versorgungssystemen beruht. Das erschwert den Zugang zur Versorgung und bringt Herausforderungen bei der Zusammenarbeit zwischen Fachkräften mit sich.

Was haben wir alle gemeinsam?

In seinem Schlusswort erinnerte der Sozialarbeiter für psychische Gesundheit und Philosophieprofessor Thierry Gutknecht an die Grenzen einer ausschliesslich auf das Individuum ausgerichteten Sichtweise auf die Probleme der psychischen Gesundheit und der Prekarität. Der Freiburger Referent forderte die Zuhörer auf, aus den neuen Erkenntnissen des Tages eine Frage über das Funktionieren unserer Welt abzuleiten: «Was haben wir jenseits dieses Räderwerks gemeinsam?» Eine Frage, die in der Sozialen Arbeit, in der Pflege und in der Gesellschaft insgesamt gestellt und diskutiert werden sollte.

Für einen vollständigeren Einblick in die Vorträge und Diskussionen finden die Leser auf der Artias-Website www.artias.ch die Tagungsunterlagen sowie die Folien der Redner.

Die Artothek VU.CH

Die Artothek VU.CH ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen den Rehabilitationswerkstätten des gemeindepsychiatrischen Dienstes der Abteilung für Psychiatrie und den kulturellen Aktivitäten des CHUV. Dieses Projekt zielt darauf ab, Menschen in prekären Situationen, die in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt sind, durch künstlerische Praxis aufzuwerten. Die Sammlung der Artothek besteht aus Werken von 47 Künstlern, die in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt sind. Diese Werke werden ausgeliehen und ausgestellt, um diese künstlerische Produktion sichtbar und existent zu machen. Isabelle Cuche-Monnier, Kulturvermittlerin der Ateliers de Réhabilitation und Referentin an der Herbsttagung: «Einige waren ursprünglich keine Künstler und haben sich im Laufe ihrer Genesung eine neue Identität geschaffen. Die Artothek ermöglicht es ihnen, in dieser neuen Identität zu existieren.» vu.chuv.ch/artotheque

Amanda Ioset
Artias-Generalsekretärin