Die selbständigen Tätigkeiten mit geringen oder keinen vertraglichen Absicherungen wie UBER-Fahrerinnen und Fahrer sind für die Fallprüfung schwierig, dennoch wird ihre Zahl infolge der Corona-Krise voraussichtlich ansteigen.
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Unterstützung für  Selbständigerwerbende im Kanton Waadt

07.06.2021
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Basierend auf den SKOS-Richtlinien ermöglichen die Waadtländer Sozialhilferichtlinien eine zeitlich begrenzte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für Selbständigerwerbende. Die Anzahl der Anträge von Selbständigerwerbenden stieg in Lausanne während des ersten Quartals der Pandemie um das Zweieinhalbfache infolge der vom Bundesrat beschlossenen Schutzmassnahmen.

Die Waadtländer Richtlinien definieren das Recht der Selbständigerwerbenden auf ein Integrationseinkommen. sie verweisen auf die  Durchführungsbestimmungen des Waadtländer Sozialhilfegesetzes und erinnern daran, dass «das Integrationseinkommen nicht dazu bestimmt ist, die Gründung eines Unternehmens zu ermöglichen». Deshalb werden finanzielle Leistungen für Selbständige restriktiv gewährt. Zusätzlich zu den für «klassische» Antragstellende festgelegten Bedingungen (insbesondere Subsidiaritätsprinzip und nachgewiesene Bedürftigkeit) gilt es für Selbständigerwerbende weitere Bedingungen zu erfüllen. Es gelten folgende zursätzliche Anforderungen:            

 Ihren rechtlichen Status als Selbständigerwerbende nachweisen, d. h. einer AHV-Ausgleichskasse angeschlossen sein und

   bei einer AG oder GmbH im Handelsregister eingetragen sein;

 nach den Grundsätzen der Ordnungsmässigkeit des Rechnungslegungsrechts Rechnung legen;

  kein Personal beschäftigen;

  den Firmensitz im Kanton haben und die Tätigkeit in der Schweiz ausüben.

Darüber hinaus müssen Selbständigerwerbende nachweisen, dass ihre Tätigkeit (Haupt- oder Nebenerwerb) nicht dauerhaft beeinträchtigt ist und dass das Haushaltseinkommen das Existenzminimum von mindestens sechs Monaten während der letzten vierundzwanzig Monate gedeckt hat. Kurz gesagt, Sozialhilfe für Selbständigerwerbende ist vorübergehend, da sie auf die Wiedererlangung der Autonomie abzielt; sie ist auch befristet, da sie auf sechs Monate begrenzt ist, mit der Möglichkeit einer ausnahmsweisen Verlängerung um weitere sechs Monate.  

Im Jahr 2006 wurde der Sozialdienst Lausanne formell ermächtigt, die finanzielle Lage von gesuchstellenden Selbständigen zu prüfen und ihren Anspruch auf Unterstützung durch die Sozialhilfe festzulegen. Seit Januar 2021 werden jedoch alle Dossiers von Selbständigerwerbenden im Waadtland dem Kompetenzzentrum für Selbständigeerwerbende  in der Sozialhilfe (CCI-RI), einer spezialisierten Einheit des Sozialdienstes Lausanne, vorgelegt.

Betreuung der Selbständigerwerbenden und das Kompetenzzentrum in Lausanne

Aufgrund der zusätzlichen Anforderungen für Selbständigerwerbende beobachtet der Sozialdienst Lausanne, dass etwa die Hälfte der Anträge «ohne Folgeleistung» abgeschlossen werden. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Manchmal erfüllen die Antragstellerinnen und Antragsteller einfach nicht die Kriterien, sie ziehen ihre Anträge zurück, nachdem sie die Bedingungen gelesen haben, oder sie legen nicht alle Dokumente innerhalb der festgelegten Frist vor. Nur etwa ein Viertel der Anträge von Selbständigerwerbenden führt zur Anerkennung der Selbständigkeit und zur Gewährung einer sechsmonatigen Unterstützung durch die Sozialhilfe. Ein weiteres Viertel der Antragstellenden entschliesst sich jedoch, einen klassischen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen, nachdem festgestellt wurde, dass das Haushaltsbudget für die materielle Grundsicherung der Haushaltsmitglieder nicht ausreicht. Sie sind dann allerdings gezwungen, die selbständige Tätigkeit aufzugeben.

Generell ist die Anzahl der Selbständigen seit dem Inkrafttreten der kantonalen Richtlinie vom 1. März 2018 relativ stabil geblieben. Mit der Regelung bemühte sich die Vormundschaftsbehörde um die Harmonisierung der Praxis zwischen den Behörden. Diese wurden dazu angehalten, die Richtlinien für die RI-Gewährung umzusetzen. Beim Lausanner Sozialdienst hat die Umsetzung dieser Richtlinie zu einem Anstieg des Zeitaufwands für die Fallanalyse geführt. Dies liegt nicht so sehr an den neuen Anforderungen (die bereits im Sozialdienst Lausanne Anwendung  fanden), sondern vielmehr an der zunehmenden Komplexität der einzelnen Situationen. Diese Entwicklung wurde durch die sozioökonomischen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie verschärft, da sie vor allem die Selbständigerwerbenden betreffen.  

Komplexerere Lebenslagen und prekärere Verhältnisse

Im Sozialdienst Lausanne ist die Anzahl der Anträge auf Sozialhilfe für Selbständigerwerbende während des ersten Quartals der Pandemie (zwischen dem 17. März und dem 31. Mai 2020) um das Zweieinhalbfache gestiegen, was eine direkte Folge der vom Bundesrat beschlossenen Einschränkungen ist. Seitdem hat die Anzahl der Gesuche von Selbständigerwerbenden sowie der Fälle nur geringfügig zugenommen. Dennoch kann man feststellen, dass die angetroffenen Lebenslagen komplexer und die Menschen in prekäreren Verhältnissen leben.  

In diesem pandemischen Kontext hat das Kompetenzzentrum für Selbständigeerwerbende in der Sozialhilfe seine Tätigkeit aufgenommen. Das vom Kanton verfolgte Ziel ist nichts anderes als die Bündelung der Kompetenzen bei der Bearbeitung von Fällen von Selbständigerwerbenden. Daher müssen die zehn regionalen Sozialzentren des Kantons Waadt ihre Dossiers vor der Gewährung der Sozialhilfe dem Kompetenzzentrum unterbreiten. Das Kompetenzzentrum ist dafür verantwortlich, Anträge zu untersuchen, jeder Vollzugsbehörde einen Vorbescheid zuzustellen und Fälle nach sechsmonatiger Unterstützung zu prüfen. Darüber hinaus muss das Kompetenzzentrum den Mitarbeitenden der Vollzugsbehörden Weiterbildungen anbieten und eine Hotline bereitstellen, um ihre Fragen zur Verwaltung der Dossiers von Selbständigerwerbenden zu beantworten. Nach viermonatiger Betriebszeit kann eine Reihe von Schwierigkeiten festgestellt werden, mit denen das Kompetenzzentrum derzeit zu kämpfen hat. 

Als für die Analyse aller Anträge des Kantons verantwortliche Stelle steht das Kompetenzzentrum vor Herausforderungen, die zur Sensibilität der Fallprüfung beitragen:

Ein erheblicher Anteil der Selbständigerwerbenden erfüllt nicht die Anforderungen der Richtlinie und kann daher keine unterstützung durch die Sozialhilfe für Selbständige beantragen. Darunter befinden sich auch Personen, die unter der Armutsgrenze leben. Ihnen kann nur Sozialhilfe gewährt werden, wenn sie ihre Selbständigkeit aufgeben.

Die Entscheidungen des Bundes und der Kantone, die sich direkt auf die selbständige Erwerbstätigkeit auswirken, unterliegen starken Schwankungen, ebenso wie die Covid-Hilfsmassnahmen. So ist die Ermittlung der Aussichten für die Wiederaufnahme einer selbständigen Tätigkeit zu einer äusserst komplizierten Aufgabe geworden.

Gesuchstellende Selbständigerwerbenden sind unzureichend über die verschiedenen Finanzhilfen informiert, die sie beanspruchen können (ob Hilfe des Bundes, des Kantons oder der Gemeinden). Dadurch verlängert sich die Überprüfungszeit, da die Antragsteller verpflichtet sind, alle notwendigen Schritte einzuleiten, um die ihnen zustehenden Finanzhilfen zu beziehen.

Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Personen, die eine selbständige Tätigkeit (Haupt- oder Nebenerwerb) aufnehmen möchten, ansteigen wird, da es für sie noch schwerer möglich ist, eine Anstellung zu finden. Die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit im aktuellen Kontext ist eine besonders heikle Entscheidung.

Auch die Anzahl Personen, die selbständige Tätigkeiten mit geringen oder keinen vertraglichen Absicherungen ausüben (z. B. UBER-Fahrer oder UBER EATS-Kuriere) wird, so ist zu befürchten, ansteigen. Diese besonderen Bedingungen erschweren den Fallprüfungsprozess.

Unter den aktuellen Bedingungen kann sich die Hilfe für Selbständigerwerbenden nicht auf die Gewährung des wirtschaftlichen Existenzminimums beschränken, sondern erfordert eine gründliche Beurteilung der jeweiligen Situation, eine umfassende Information über die vorhandenen Hilfen und Unterstützung bei den zu ergreifenden Massnahmen. Die Unsicherheit des aktuellen sozioökonomischen Kontextes erschwert die Aufgabe der Sozialhilfe sehr und erfordert eine spezielle Handhabung dieser Fälle. Die Sozialdienste müssen daher über spezifische Kenntnisse in diesem Bereich verfügen und in der Lage sein, die geleisteten Hilfen an die sich verändernde Realität anzupassen.