Die FamEL sind mittlerweile ein fester Bestandteil der Waadtländer Familienpolitik.
Schwerpunkt

Waadt: Hilfe für Familien mit geringem Einkommen

06.06.2022
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Die Ergänzungsleistungen für Familien (FamEL) wurden vor über zehn Jahren im Kanton Waadt eingeführt. Es galt, Familien zu unterstützen, die trotz Anstellung nicht in der Lage waren, die Grundbedürfnisse zu decken. FamEL sind eine finanzielle Hilfe, die manchmal notwendig ist, um eine Prekarisierung und den Gang zur Sozialhilfe zu vermeiden. Die zweite Evaluation der Unterstützung für Familien beleuchtet ihre Wirksamkeit und ihre positiven Auswirkungen auf den Alltag der betroffenen Haushalte.

Seit 2011 bietet die FamEL Familien mit Kind(ern) bis 16 Jahre, die seit mindestens drei Jahren im Kanton leben und über ein bescheidenes Einkommen verfügen, eine Einkommensunterstützung. Im Durchschnitt wird die Unterstützung für eine Dauer von zwei Jahren gewährt. Sie wird in Form einer monatlichen Zulage ausbezahlt, die je nach Haushaltszusammensetzung und Alter der Kinder variiert, sowie in Form von Rückerstattungen für Krankheits- und Betreuungskosten. Im Jahr 2020 betrug die durchschnittliche Höhe der monatlichen Leistung, die eine Familie bezog, fast 1030 Franken. Ende Dezember 2020 wurden 5536 Haushalte mit FamEL unterstützt.

Waadt ist neben dem Tessin, Solothurn und Genf einer von vier Kantonen in der Schweiz, die über ein System von Ergänzungsleistungen für Familien verfügen. Die Waadtländer Regelung geht auf das Legislaturprogramm 2007–2012 des Staatsrats und dessen Strategie zur Armutsbekämpfung zurück, die insbesondere Massnahmen zur Stärkung der sozialen Einrichtungen vor der Sozialhilfe vorsieht.

Die Familien-EL wurden geschaffen, weil die Sozialhilfe vom Konzept her nicht für einkommensschwache erwerbstätige Familien geeignet ist. Diese sind mit vorwiegend strukturellen und temporären Problemen konfrontiert, die mit der Anwesenheit eines Kindes bzw. von Kindern zusammenhängen. Diese Haushalte befinden sich in Lebensphasen, in denen sie nicht immer ihr volles Erwerbspotenzial entfalten können und eine vorübergehende Unterstützung benötigen. Um Fehlanreize zur Beibehaltung oder Erhöhung der Erwerbstätigkeit zu vermeiden, beinhaltet das Waadtländer Modell drei spezifische Massnahmen: Bei der Berechnung des massgeblichen Familieneinkommens wird in jedem Fall ein Mindesteinkommensbetrag (hypothetisches Einkommen) angerechnet; auf das Erwerbseinkommen wird ein Freibetrag angewandt; die mit einer Erwerbstätigkeit verbundenen Betreuungskosten können zurückerstattet werden.

Paritätische Beiträge

Die Finanzierung der Leistungen erfolgt durch paritätische Beiträge der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Selbstständigen sowie durch den Beitrag des Kantons und der Gemeinden. Die öffentliche Hand und die Sozialpartner sind in einer Kommission vertreten, die gesetzlich beauftragt ist, das System FamEL regelmässig zu evaluieren.

Ein erstes Evaluationsmandat wurde 2015 an das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) vergeben. Im Jahr 2021 wurden die Studienbüros Microgis und Evaluanda beauftragt, eine Evaluation der Jahre 2015 bis 2019 vorzunehmen. Das Gesundheits- und Sozialdepartement hat die Ergebnisse der Evaluation inzwischen mit einem Bericht veröffentlicht.

Die Studie bestätigt die Notwendigkeit und den Nutzen des Familien-EL-Systems, von dem zwischen 2011 und 2019 mehr als 11 000 Familien profitiert haben. Ohne dieses Instrument würden ebenso viele Familien in eine prekäre Situation geraten.

Die wichtigsten Ergebnisse:

Die schrittweise Einführung der FamEL scheint vollzogen. Das jährliche Wachstum an bedürftigen Waadtländer Familien von fast 20 Prozent zu Beginn der Regelung ging 2016 auf 11 Prozent, 2019 auf 4 Prozent und auf 2 Prozent im Jahr 2020 zurück. Im Jahr 2019 erreicht der Anteil der begünstigten Haushalte innerhalb der Waadtländer Referenzbevölkerung 7,1 Prozent. Die FamEL stossen in allen Regionen des Kantons auf Bedarf.

Die Hauptmerkmale der Haushalte, die FamEL beziehen, ändern sich nur geringfügig: Einelternfamilien (Bezugsquote von 18,2 Prozent im Vergleich zur Referenzbevölkerung), kinderreiche Familien (Quote von 9,2 Prozent für Familien mit drei Kindern), aussereuropäische Haushalte (Quote von 16,3 Prozent) und schliesslich Eltern ohne Berufsausbildung (Quote von 13,2 Prozent).

Die Lebensläufe der Begünstigten der Fördermassnahme weisen eine grosse Vielfalt auf: Nur 10 Prozent stammen aus der Sozialhilfe. Ende 2019 waren 47 Prozent der Haushalte, die das Programm in Anspruch genommen hatten, wieder aus dem Programm ausgeschieden. 36 Prozent von ihnen haben wieder eine vollständige finanzielle Unabhängigkeit erlangt; 11 Prozent hingegen müssen Sozialhilfe in Anspruch nehmen.

In den letzten Jahren konnte ein Anstieg der Erwerbstätigkeit der Haushalte innerhalb der Massnahme beobachtet werden. Heute beträgt die Erwerbsquote bei Zweielternhaushalten rund 80 Prozent und bei Einelternhaushalten rund 55 Prozent. Somit kann festgestellt werden, dass die Regelung weder die Einkommensentwicklung der betroffenen Familien noch ihre finanzielle Unabhängigkeit bremst.

Die qualitativen Interviews zeigten, dass die Familien durch eine grössere finanzielle Unabhängigkeit mit einer besseren Stabilität in der Organisation des Familienlebens profitieren können, was mittel- bis langfristig ihre beruflichen Erfolgschancen verbessert. Der Studie zufolge erkennen die Familien die Berechtigung und den Nutzen der Massnahme an. Die Begünstigten gaben auch an, dass ihr finanzieller Stress verringert wird, was sich positiv auf ihre Gesundheit auswirkt.

Die Massnahme unterstützt die finanzielle Unabhängigkeit der Familien, und zwar sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht. Allerdings wird die Vereinbarkeit von Privatleben und Berufstätigkeit für die Empfängerhaushalte manchmal durch den schwierigen Zugang zu institutionellen Betreuungsangeboten erschwert, insbesondere für Familien mit atypischen Arbeitszeiten. Dies kann die Befähigung der Familien zur Selbstständigkeit belasten. Zudem bleiben die Empfänger von Familien-EL trotz ihrer starken Präsenz auf dem Arbeitsmarkt vulnerabel, was sicherlich auch auf ihr Bildungsniveau zurückzuführen ist.

Das FamEL-Coaching, das in dieser Phase in einer Pilotform angeboten wird, scheint dennoch ein sehr konkretes und wirksames Mittel zu sein, um auf die Bedürfnisse bestimmter Familien einzugehen und sie bei der Beendigung des Förderprogramms auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit zu begleiten.

Neben der Analyse des Verfahrens enthält der Bericht auch eine Reihe von Empfehlungen, darunter insbesondere die Stärkung des Programms FamEL-Coaching. Dieses Pilotprogramm richtet sich an Familien, die mit einer Leistungskürzung konfrontiert sind, wenn ihr jüngstes Kind sechs Jahre alt wird. Ziel des Programms ist es, den Einkommensverlust auszugleichen und mehr Unabhängigkeit zu erlangen. Diese Familien hatten die Möglichkeit, von Beratern betreut zu werden, um ihre berufliche Situation zu verbessern, indem sie ihre Familienorganisation neu überdachten, die Stelle wechselten oder ihre Erwerbsquote erhöhten. 83 Prozent der Teilnehmenden konnten ihr Einkommen steigern. Angesichts der sehr positiven Bilanz soll dieses Programm in Zukunft auch für andere Familien geöffnet werden, die mit Schwierigkeiten angesichts ihrer Arbeitssituation oder ihrer Familienorganisation konfrontiert sind. Um den Zugang zu FamEL zu verbessern, wird ferner empfohlen, die Informationswege zu diversifizieren und administrative Unterstützung zur Verfügung zu stellen. Diese Empfehlungen werden nun näher geprüft.

Ziel der Prävention von Sozialhilfe wurde erreicht

Die FamEL sind mittlerweile ein fester Bestandteil der Waadtländer Familienpolitik. Sie haben sich als wirksames Instrument erwiesen, um den Bedürfnissen von erwerbstätigen Personen mit niedrigem Einkommen und Familienpflichten gerecht zu werden. Die Ziele der Waadtländer Regierung, Armut von erwerbstätigen Familien zu verringern, die Prävention von Sozialhilfebezug und die Förderung der Erwerbstätigkeit, werden durch diese jüngste Evaluation erneut bestätigt.

Projekt: www.vd.ch/PCFamilles

Anouk Friedmann
Direktion für Sozialhilfe und Sozialversicherung Waadt