Casanostra hilft Menschen, die auf dem regulären Wohnungsmarkt keine Chance haben, eine Wohnung oder ein Zimmer zu mieten. Der Bedarf an Wohnungen und Wohnbegleitungen nimmt stetig zu.
Schwerpunkt

Wohnbegleitung als Schlüssel zur Sozialarbeit

05.12.2021
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Casanostra vermietet Wohnungen und bietet darin Wohnbegleitungen an. Diese Kombination erweist sich als besonders wirkungsvoll. Gelingt es, die Wohnsituation zu stabilisieren, verbessert sich auch die Lebenssituation der Klientinnen und Klienten. 

Vor 31 Jahren wurde der Verein Casanostra mit Unterstützung der Bieler Sozialdirektion gegründet – nach einer Phase der Wohnungsnot in Biel. Obdachlosen Menschen oder von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen Wohnraum zu vermieten, war das Ziel der Initianten. Um diesen Zweck erfüllen zu können, mietete der Verein auf dem Wohnungsmarkt Abbruchliegenschaften und Wohnungen, um dort oft unter widrigen Verhältnissen Wohnbegleitung anzubieten. Die Leitungen von Sozialdienst und Wohnungsamt waren der festen Überzeugung, dass es einer spezialisierten Institution bedarf, um die Problematik der wohnungssuchenden Sozialhilfeklientinnen und -klienten anzugehen.

Heute ist Casanostra ein anerkannter und unverzichtbarer Leistungserbringer für die öffentliche Hand. Den Verein verbinden zwei Leistungsverträge mit der Stadt Biel, einer für die «Obdachsicherung mit begleiteten Wohnformen» und einer für den «Notwohnungsbereich». Für Notfälle, in denen beispielsweise eine Familie sehr schnell eine Unterkunft braucht, hält Casanostra im Auftrag der Stadt Biel zwei möblierte Notwohnungen bereit. Menschen in Notwohnungen erhalten bei Bedarf ebenfalls eine Wohnbegleitung, damit sich ihre Lebenssituation stabilisieren kann.

Einzigartiges Modell

Die Kombination von Sozialarbeit und Immobilienverwaltung, also zweier Gebiete, die sonst kaum Berührungspunkte haben, ist in der Schweiz einzigartig. Casanostra stehen zurzeit 161 Wohnungen zur Verfügung. 96 davon befinden sich in neun verschiedenen Liegenschaften im Eigentum des Vereins, der auch Mitglied des Verbands Wohnbaugenossenschaften Schweiz ist.

Die Dienstleistung begleitetes Wohnen passt Casanostra auf die individuellen Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten an (heute unter dem Modebegriff Housing First bekannt). Je nach Betreuungsstufe und Besuchsintervallen fallen unterschiedliche Kosten an. Bei Casanostra wohnt auch eine ganze Reihe von sogenannten C-Mietern, die selbst keine Wohnung finden können, aber über gute Wohnfähigkeiten verfügen. Diese C-Mieter sind wichtig, damit in den Liegenschaften eine gute Durchmischung entsteht, was die Integration von Armutsbetroffenen fördert.

Anmelden können sich Menschen, die Wohnunterstützung brauchen, oder sie werden vom Sozialdienst oder von einer anderen Institution an Casanostra verwiesen. Im Aufnahmegespräch klären die Klientinnen und Klienten mit einer Fachperson ab, welches die Wohnbedürfnisse sind und welche Ziele mit der Wohnbegleitung verfolgt werden sollen.

Etwa die Hälfte der Mieterinnen und Mieter habt vor ihrem Einzug bei Casanostra in einer eigenen Wohnung oder in einem eigenen Zimmer gewohnt. Viele waren bei Bekannten oder bei der Heilsarmee untergebracht, oder sie haben auf der Gasse gelebt. Casanostra ist also bis heute ein wichtiger Leistungserbringer, um in Biel der Obdachlosigkeit vorzubeugen.

Präventionsangebot Wohnfit

Casanostra bietet der Stadt Biel und umliegenden Gemeinden noch ein weiteres Angebot an: «Wohnfit» für Menschen, die in einer eigenen Wohnung leben und in dieser auch bleiben möchten. Oft gibt es aber Schwierigkeiten mit den Vermietenden, und es droht die Kündigung. Casanostra versucht dann im Gespräch mit den Vermietenden, eine Lösung zu finden und durch Wohnbegleitung die Wohnkompetenzen der Mietenden zu verbessern.

Eine stabile Wohnsituation ist ein Schlüssel zu wirksamer Sozialarbeit. Ein grosser Teil der Klientinnen und Klienten hat mehrere Ressourcenmängel. Einer davon ist die Arbeits- beziehungsweise die Stellenlosigkeit. Sie sind vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Im Bieler Arbeitsmarkt funktioniert die Integration von Sozialhilfebezügern seit nun fast 30 Jahren ungenügend. Die hohe Sockelarbeitslosigkeit schrumpft auch in konjunkturellen Aufschwungsphasen nicht, im Gegenteil, sie nimmt eher zu.

Mehr als zehn Prozent der Bieler Haushalte sind auf die Sozialhilfe angewiesen – auch heute. Das heisst, dass diese Haushalte nicht mehr über den Arbeitsmarkt in die Gesellschaft integriert sind. Bleibt der Wohnungsmarkt, der nebst dem Arbeitsmarkt der zweite wichtige Integrationsfaktor in der Gesellschaft ist.

Wer nicht über minimale Wohnkompetenzen verfügt, kann kaum am sozialen Leben teilhaben. Er kann keine Verantwortung für sein Leben oder seine Familie übernehmen und niemanden zu sich nach Hause einladen. Er kann auch keine Beziehungen zu Nachbarn aufbauen. Auf diese Weise schreitet die Spirale der Desintegration stetig voran.

Dass der Ansatz, Sozialarbeit und Immobilienverwaltung zu kombinieren, wirkungsvoll ist, wird von der Forschung bestätigt. Studienautorinnen der ETH Zürich würdigen die Dienstleistungen von Casanostra wie folgt: «Für die Mietenden wirkt sich die Gewissheit, ein sicheres Zuhause zu haben, stabilisierend auf ihr Wohlbefinden aus. Casanostra leistet einen wesentlichen Beitrag gegen die gesellschaftliche Verdrängung von Armutsbetroffenen. Dies ist ein Wert, der sich für die öffentliche Hand auszahlt.»

Die Nachfrage steigt

Mehrere Tausend Menschen haben in den letzten drei Jahrzehnten Wohnraum beim Verein für Wohnhilfe erhalten oder sozialarbeiterische Unterstützung darin, ihre Wohnfähigkeit zu verbessern. Die meisten Klientinnen und Klienten werden anderthalb bis zwei Jahre von Casanostra begleitet. Danach sind viele von ihnen in der Lage, (wieder) eine eigene Wohnung zu mieten.

In den letzten Jahren hat der Bedarf an den Casanostra-Dienstleistungen stetig zugenommen. Immer mehr Menschen finden auf dem freien Markt selbst keine Wohnung mehr. Der steigenden Nachfrage nach Wohnraum hinkt das Angebot für sozial Schwache hinterher.

Um die Herausforderungen der Zukunft annehmen zu können, sucht Casanostra nach Möglichkeiten, neuen Wohnraum zu beschaffen. Als Trägerorganisation der neuen Wohnbaugenossenschaft Gurzelenplus wird Casanostra auf dem Gurzelen-Areal ab 2025 weiteren Wohnraum für Benachteiligte anbieten können – in einer innovativen Siedlung, die neue Formen des Zusammenlebens fördern will.

 

Daniel Bachmann
Geschäftsführer Casanostra